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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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»Wir werden vorerst in
Hyde Park Gate wohnen, obgleich wir selbstverständlich
auch einen Landsitz brauchen. Lieben Sie das Meer,
Mary? Segeln Sie gern?« »Ich weiß es nicht. Ich bin noch
nie übers Meer gefahren. «
    »Es wird Ihnen bestimmt gefallen. Ich lasse gerade eine
dampfbetriebene Jacht bauen. Bis zu unserer Hochzeit
dürfte sie fertig sein. Wir könnten unsere Hochzeitsreise
an Bord verbringen. Sie können mir helfen, einen Namen
zu finden. Ich hoffe doch, dass Sie die Schiffstaufe
übernehmen. «
    Sie antwortete nicht. Die Augen gesenkt, starrte sie vor
sich hin; ihre Hände ruhten jetzt in ihrem Schoß, daneben
lag das zerriebene Palmblatt.
    »Schauen Sie mich an«, befahl er mit fester, ruhiger
Stimme. Sie schaute den Mann an, den zu heiraten sie
einverstanden war, und versuchte eine ausdruckslose
Miene zu machen. »Die Fotografen kommen«, sagte er.
»Ich wünsche mir ein Foto, aus dem Freude und
Zufriedenheit über unser Verlöbnis spricht. Als meine
Braut, Gattin und Dame des Hauses werden Sie es
tunlichst vermeiden, bei öffentlichen Auftritten
Unbehagen zu artikulieren, ganz gleich, was Sie privat
fühlen mögen. Selbstverständlich hoffe ich, dass Sie
keinen Anlass zum Unbehagen bekommen. Habe ich
mich verständlich ausgedrückt?«
    Sie merkte, dass sie zitterte. »Ja, Mr. Bellmann«,
brachte sie hervor. »Oh, nicht mehr Mr. Bellmann. Ich
heiße Axel, und so sollen Sie mich fortan auch nennen.
    Ich will es einmal aus Ihrem Mund hören. «
»Ja, Axel. «
»Sehr schön. Nun erzählen Sie mir doch etwas über
diese Pflanzen. Ich verstehe wenig von Pflanzen. Wie
heißt zum Beispiel diese hier?«
    Punkt halb drei stand Mr. Protherough vom Atelier
Elliott & Fry vor Lord Wythams Haus. Seine drei
Gehilfen waren in den Genuss einer unerwarteten
arbeitsfreien Stunde gekommen. Außerdem hatte man
ihnen fünf Shilling zugesteckt, damit sie die Freude
darüber für sich behielten. An ihrer Stelle waren
Frederick, Jim und Charles Bertram mit von der Partie.
    Jim trug seinen besten Anzug und hatte sein Haar mit
Pomade gebändigt. Frederick war mit geschwärzten
Augenbrauen und Backenbart kaum wieder zu erkennen.
Mr. Protherough, ein hellblonder junger Mann mit Brille,
spielte das Spiel mit. Frederick wusste, dass der junge
Mann seine Stelle riskierte, wenn etwas schiefgehen
sollte.
    Der Diener, der ihnen öffnete, hatte wenig Neigung, sie
einzulassen.
»Handwerker zum Lieferanteneingang«, schnappte er
und wollte schon wieder die Tür schließen.
Charles, der wie ein Gentleman gekleidet war, erteilte
ihm darauf eine Lektion: »Einen Augenblick bitte, mein
Herr. Ist Ihnen bewusst, wen sie gerade aus dem Haus
ihres Brotgebers aussperren wollen?«
Der Diener öffnete die Tür eine Handbreit weiter. Eine
Spur von Trotz erschien auf seinem Gesicht.
»Ja«, sagte er. »Fotografen. Handwerker. Der
Lieferanteneingang ist um die Ecke. «
»Ach, sagen Sie«, fragte Charles, »als Sir Frederick
Leighton Lady Wythams Porträt malte, haben Sie ihn
auch zum Lieferanteneingang geschickt?«
Der Diener machte plötzlich eine alarmierte Miene.
»Nein«, gab er vorsichtig zur Antwort.
»Hier, meine Karte«, sagte Charles mit einer lässigen
Geste. »Haben Sie die Güte, Lord Wytham mitzuteilen,
dass die künstlerischen Fotografen gekommen sind.
Übrigens schon seit einer Weile, denn wir waren
pünktlich um halb drei hier, und nun« - er schaute auf
seine goldene Taschenuhr --- sind wir schon fünf
Minuten über die Zeit. «
Der Diener schaute auf die Karte, schluckte und wich
etwas zurück. »Oh, Entschuldigung. Kommen Sie bitte
herein. Ich werde Seine Lordschaft von Ihrer pünktlichen
Ankunft in Kenntnis setzen. Hier entlang, wenn ich bitten
darf... «
Jim setzte eine arrogante Miene auf (was nicht leicht
war, nachdem Charles ihm belustigt zugeblinzelt hatte)
und half Frederick, die Ausrüstung hereinzutragen. Man
führte sie in den Wintergarten. Während Mr. Protherough
alles für die Aufnahme bereitmachte und die Beleuchtung
überprüfte, stellten Frederick und Jim Kamera und Stativ
auf und präparierten die fotografischen Platten. Die
Aufnahmen sollten nach dem nassen Kollodiumverfahren
gemacht werden. Obgleich es umständlich war, zogen die
Ateliers es allen anderen Verfahren vor, weil es
tonwertgenaue Bilder lieferte. Charles sprach in der
Zwischenzeit mit Lord Wytham. Im Wintergarten war es
warm. Die fahle Wintersonne hatte keine Kraft, aber der
Dampf in den Heizungsrohren sorgte für eine

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