Der Schatten im Wasser
nicht selbst zu Hause geblieben war oder sie ganz einfach überredet hatte mitzukommen. Sie war seelisch nicht ganz im Gleichgewicht, und als ihr Ehemann hätte er sie unterstützen müssen, sie nicht allein lassen dürfen, hätte vielmehr bei ihr bleiben und sich um sie kümmern müssen. So dachte er heute. Dennoch versuchte er sein Handeln damit zu rechtfertigen, dass ihre Ehe schon seit langem stagnierte, alles lief zwar seinen gewohnten Gang, doch mehr oder weniger ohne ihr Zutun. Eigentlich ganz normal, und dennoch war es eine Niederlage. Erst jetzt wurde ihm das in aller Deutlichkeit bewusst.
Er hatte halbherzige Versuche unternommen, sich ihr zu nähern. Manchmal in der Nacht schien es ihm, als weinte sie. Dann legte er seinen Arm auf die Decke über ihrem Körper. Sie war sofort still.
»Was ist?«, flüsterte er. »Fühlst du dich nicht gut?«
Sie tat, als ob sie schliefe, doch er hörte ihr angestrengtes Atmen.
»Ich weiß, dass du wach bist, und nun will ich, dass du redest!«
Nein. Das sagte er nicht. Kopf in den Sand. Konfliktscheu. So war er schon immer gewesen. Als würde ihre Antwort ihn überfordern, wie auch immer sie ausfiele.
In guten wie in schlechten Tagen. Einer trage des anderen Last.
Im Februar vor sechseinhalb Jahren. Er fuhr zum Sommerhaus hinaus und hockte dort in der feuchten Kühle. Als er am Sonntagnachmittag wieder zurückkehrte, war das Haus leer.
Eine Sache hatte sie ihm allerdings erzählt. Sie wollte am Sonntag die U-Bahn raus nach Hässelby nehmen und eine ehemalige Klassenkameradin aufsuchen, die noch immer in dem Vorort wohnte. Justine Dalvik, die Tochter des Sandykönigs. Ihr Vater hatte den berühmten Sandykonzern besessen, ein multinationales Familienunternehmen, das Süßigkeiten und Halspastillen herstellte. Berit erwähnte irgendetwas von Mobbing, sie schien zu bereuen, dass sie sie als Kind nicht besonders nett behandelt hatte. Alle Kinder sind grausam, hatte er sie zu beruhigen versucht. Das liegt in der Natur des Kindes. Doch sie wehrte kopfschüttelnd ab, wollte es nicht hören.
Dann suchte er diese Frau auf. Es war eine unangenehme Begegnung. Die Atmosphäre in ihrem Haus wirkte irgendwie bedrohlich, stimmte ihn aggressiv.
»Ich möchte wissen, was Sie gemacht haben«, forderte er. »Alles, jedes Detail.«
Die ganze Situation war irgendwie unwirklich. In den Räumen flog ein großer, wilder Vogel umher. Es roch nach Federn und Vogelkot.
Die Frau hatte Probleme beim Gehen. Es fiel ihm auf, als sie die Treppe ins Obergeschoss hochstiegen. Sie humpelte. Sie trug einen schlecht sitzenden Rock und eine Strickjacke. Ihre Augen waren stark geschminkt. Er war davon überzeugt, dass sie reich war, denn ihr Vater hatte ein enormes Vermögen hinterlassen. Sie hätte es sich also ohne weiteres leisten können, sich besser zu kleiden, es war ihre Nachlässigkeit, die ihn irritierte. Der Raum war voll mit Büchern, zum Teil in Regalen, zum Teil in Stapeln auf dem Fußboden. Der Vogel stelzte zwischen ihnen herum und stieß krächzende Laute aus. Jeden Moment konnte er zum Angriff ansetzen. Tor hielt zum Schutz die Arme hoch.
»Wie, zum Teufel, kann man sich nur so ein Haustier halten?«
Sie antwortete nicht, stand nur da und zupfte am Saum ihrer Jacke. Ihre Hände waren zerkratzt und voller Schrammen. Raubtiere, dachte er. Raubtiere in einem Wohnhaus.
Er wies auf die Sitzgruppe.
»Haben Sie hier gesessen?«
»Ja.«
Er starrte auf die beiden Sessel und sank dann in einen von ihnen, hinein in die Spuren seiner Frau, die zuletzt darin gesessen hatte. Die Luft war durchdrungen von abgestandenem Zigarettenrauch. Er sah die rotgeränderten Abdrücke von Weingläsern auf dem Tisch.
»Was sagte sie, worüber haben Sie geredet?«
Sie machte eine belanglose Geste.
»Über Frauenthemen, was Frauen eben so bewegt.«
»Das ist keine Antwort.«
»Sie ist schließlich hierher gekommen. Es war sie, die mich aufgesucht hat.«
»Ja?«
»Wir kannten einander von früher. Wir gingen in dieselbe Klasse. Ist es nicht immer so, dass eine Art Verbindung zwischen alten Klassenkameraden besteht?«
»Kameraden? Waren Sie das wirklich?«
»Nicht direkt«, antwortete sie steif.
»Nein, das habe ich Berit angemerkt. Sie sind gemobbt worden, oder? Ziemlich sogar, nicht wahr?«
Sie humpelte umher und hantierte mit den Büchern. Schob sie in die Regale, richtete die Buchrücken sorgfältig aus. Sie hatte nicht die Ruhe, sich zu setzen und zu antworten. Das provozierte ihn. Und
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