Der Schatten von nebenan - Roman
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D er erste Teil meiner Geschichte begann eine Woche vor meiner Verhaftung mit einem Fremden, der zur falschen Zeit am falschen Ort aufkreuzte. Meine Frau Claire hatte die Nacht nicht zu Hause geschlafen, da sie an einer zweitägigen Konferenz in Chicago teilnahm. Der Sommer war vorbei, nur seine Fährte hing immer noch über Park Slope.
»Galvin, ich bin’s, Claire. Wir steigen ein«, sagte sie, als sie mich zu Sonnenaufgang vom Flughafen O’Hare anrief. Bevor ich etwas erwidern konnte, fuhr sie fort, »Wir landen in La-Guardia. Ich werde dann direkt ins Büro fahren.«
Die seltsame Tatsache, dass Claire nach anderthalb Jahren Ehe am Telefon ihren Namen nannte, hätte mich alarmieren sollen. Vielleicht tat es das nur nicht wegen ihrer sanften Stimme, die mir immer wie zum Singen geschaffen schien. Ich fühlte mich jedenfalls auf eine katerähnliche Weise müde, obwohl ich den Abend zuvor nichts getrunken hatte, und so hieß ich die Schläfrigkeit willkommen, die sich nach dem Telefonat wieder über mich legte. Erst als die Sonne zwei Stunden später durchs Schlafzimmerfenster mein Gesicht erreichte, rollte ich aus dem Bett, schlüpfte in Jeans und T-Shirt und stieg barfuß die knarrenden Stufen hinab. Ich öffnete die Küchentür zu unserem immer noch üppig wuchernden Spätsommergarten, wo eine milde Brise den Duft alter, sich langsam auf die neue Jahreszeit vorbereitender Bäume ins Zimmer trug. Gerade als ich das Radio angeschaltet und die Reste des Kaffees in die Kaffeemaschine gelöffelt hatte, schellte es an der Haustür. Ein- oder zweimal die Woche kam ein UPS- Fahrer vorbei und brachte Pakete mit unverlangten Manuskripten für Claire, und ich nahm an, es war auch diesmal eine dieser frühen Lieferungen.
Es war nicht UPS .
»Ja?«, fragte ich wachsam, wenn auch noch nicht ganz ausgeschlafen.
»Guten Morgen«, sagte ein Mann mit heiserer Stimme. Er ignorierte die letzten zwei Konsonanten in Morgen. Er war gut aussehend, so wie ein Schauspieler in den alten Schwarz-Weiß-Filmen gut aussah. Um die Hüften saß etwas Übergewicht, was ihn auf den ersten Blick gemütlich wirken ließ. Das ergrauende Haar unterschied sich von dem dünnen, schwarzen Schnurrbart, der getönt schien. Er war so um die sechzig.
»Ich suche Miss Murphy«, sagte der Fremde, den betonten Vokal in Murphy dehnend, aber fast stumm auf dem y, so wie die Leute im Süden es sagen. Ein mittelgroßer, grüner Samsonite-Koffer stand neben ihm, der von der gleichen vergangenen Eleganz wie der Mann selbst zeugte. Ich bemerkte außerdem, dass seine Schuhe einen perfekten Glanz aufwiesen, und einen Augenblick lang dachte ich sogar, er sei ein reisender Vertreter. Da Claire und ich aber kein Geld hatten und nur Rechnungen herumlagen, die mich ansprangen, in meinen Kopf eindrangen und sich dort hartnäckig einnisteten, hätte ich ihn sofort abgewimmelt. Nur wusste ich auch, dass Vertreter nicht mehr nach Brooklyn reisten. Außerdem schien er zu gelöst für jemanden, der etwas verkaufen wollte oder für eine Wohltätigkeit Geld sammelte. Er wirkte nicht eifrig genug, um mich von etwas überzeugen zu wollen, um es nur auf meinen Geldbeutel abgesehen zu haben – in Wahrheit war er nicht freundlicher oder unfreundlicher als ein Passant auf einer ansonsten leeren Straße.
»Miss Murphy?«, fragte ich also.
Ich folgte seinem Blick und sah, dass er nach der Hausnummer über unserem Türrahmen suchte, die fehlte.
»Ist das hier nicht die Union Street Nummer 495?«, fragte er, mit einer kleinen, handgeschriebenen Notiz, die er aus seiner Tasche gezogen hatte, in der Hand.
»495 Union Street. Miss Murphy’s Bed and Breakfast«, wiederholte er, diesmal laut lesend, und nun verstand ich, was er meinte. Der Mann suchte das kleine Hotel einen Block weiter nördlich auf der Union Street, ein heruntergekommenes Gebäude, von dem ich ein paarmal im Vorbeigehen das hölzerne »Bed & Breakfast«-Schild von einem der oberen Fenster hängen gesehen hatte. Entdeckt hatte ich das Haus während einer meiner Spaziergänge durch die Nachbarschaft, kurz nachdem Claire und ich nach Park Slope umgezogen waren. Es war nicht so sehr das Holzschild, das damals meine Aufmerksamkeit erregt hatte, sondern eine Kupfergedenktafel neben der Tür des Hauses. Darauf stand, dass einst ein Leffert L. Buck in dem Haus gelebt hatte. Buck war der Erbauer der Williamsburg Bridge, dieser imposanten Stahlkonstruktion, die die Lower East Side über den East River mit Brooklyn
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