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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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1883
     
    Die Sonne war hinter dem Horizont versunken und tauchte die Wolken in blassroten Schein, als die Kutsche der königlich wissenschaftlichen Gesellschaft vor dem Haupthaus des Gehöfts vorfuhr. Das raue, hügelige Marschland war in ein sanftes Licht getaucht, das der Landschaft einen geradezu unwirklichen Anstrich verlieh.
    Schnaubend kamen die Pferde, die der Kutscher unnachgiebig zur Eile angetrieben hatte, zum Stehen, und zwei Stallknechte eilten heran, deren Bewegungen deutlich erkennen ließen, dass sie dem derben, ein wenig unbeholfenen Menschenschlag angehörten, den das Marschland von Yorkshire hervorgebracht hatte.
    Dr. Mortimer Laydon hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Leidenschaft seines alten Freundes Kincaid für das Landleben nie geteilt hatte; er hatte nie verstanden, was Gardiner daran gefunden hatte, im fernen Yorkshire zu leben, fernab von allen Segnungen der Technik und der Zivilisation, von Annehmlichkeiten wie einer täglichen Zeitung und regelmäßigen Besuchen im Club ganz zu schweigen. Aber Gardiner Kincaid hatte sich hier nach Jahren ausgedehnter Reisen im Auftrag der Wissenschaft ein Heim eingerichtet, ein »Domizil«, wie er es zu nennen pflegte, in dem er ungestört seinen Studien nachgehen konnte. Als Romantiker, der er nun einmal gewesen war, hatte er seine Gedanken stets mehr auf die Vergangenheit gerichtet als auf die Gegenwart. Nicht von ungefähr hatte er den Landsitz, mit dem die Königin ihn aus Dank für seine Verdienste um die Archäologie bedacht hatte, »Kincaid Manor« genannt, gemäß den Ländereien, mit denen die normannischen Ritter einst von ihren Herren belehnt worden waren. Und diese Liebe zur Vergangenheit hatte den alten Gardiner Kincaid am Ende das Leben gekostet.
    Längst war das Anwesen, das aus einem zweiflügeligen Gebäude und einer angrenzenden Stallung bestand, kein Farmhaus mehr; zwar verpachtete die Familie Kincaid ihren Landbesitz an die Bauern, von denen es in dieser öden, nur zur Schafzucht geeigneten Gegend ohnehin recht wenige gab. Der wahre Reichtum von Kincaid Manor lag jedoch nicht im Besitz von Grund und Boden, sondern in dem Wissen, das hier gesammelt wurde. Kein unbedarfter Besucher, der sich durch das Moor und die felsigen Hügel näherte, hätte vermutet, dass die ehrwürdigen Mauern des Anwesens nicht nur eine ansehnliche Bibliothek bargen, sondern auch eine höchst außergewöhnliche Sammlung antiker Artefakte.
    Gardiner Kincaid hatte sein Leben der Erforschung vergangener Mysterien gewidmet; er hatte Expeditionen in die entlegensten Winkel des Empire angeführt, und er war dafür von Ihrer Majestät geadelt worden. Und obwohl sein alter Freund tot war, was Mortimer Laydon mit Trauer erfüllte, war Kincaid Manor auch jetzt noch ein Hort des Wissens und profunder Kenntnis. Denn Gardiner Kincaid hatte eine gelehrige Schülerin gehabt…
    Da es weit und breit keine Siedlung gab, geschweige denn eine brauchbare Gaststätte, in der man hätte nächtigen können, hatte der Doktor Gepäck für die Nacht mitgebracht, das von den Bediensteten jetzt ins Haus getragen wurde. Vor zwei Tagen hatte er seinen Besuch durch einen Kurier angekündigt, wie die Formen gepflegten Umgangs es erforderten. Laydon wusste zwar, dass man es hier im Norden mit der Etikette nicht so genau nahm und dass Gardiners Tochter die Abneigung ihres Vaters gegen gesellschaftliche Zwänge teilte, aber er wollte dennoch nicht so unzivilisiert erscheinen, sein Kommen erst anzukündigen, indem er lautstark an die Tür des Hauses klopfte.
    Die Pforte wurde ihm vom Diener des Hauses geöffnet, der ihn mit gravitätischer Miene begrüßte. Seine Livrierung war nicht nach der neuesten Londoner Mode geschnitten, sondern so altertümlich wie alles in diesem Haus. Im Licht der Kerzenleuchter, die die Eingangshalle säumten (die Versorgung mit Gas war noch nicht bis Kincaid Manor vorgedrungen), sah Laydon alte Statuen und Gemälde, dazu Waffen aus verschiedenen Epochen, schartige Schwerter und rostige Helme, Hinterlassenschaften aus weit weniger zivilisierten Tagen.
    »Sir«, sagte der Diener mit deutlichem Yorkshire-Akzent, nachdem er dem Besucher Hut und Mantel abgenommen hatte. »Wenn Sie gestatten, werde ich Sie zum Kaminzimmer geleiten. Lady Kincaid erwartet Sie bereits.«
    »Ich bitte darum«, erwiderte Laydon.
    In einem von vergoldeten Schnitzereien gesäumten Spiegel prüfte der kleinwüchsige Mann mit dem schlohweißen Haar und dem Backenbart sein Äußeres. Was

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