Der Schattengaenger
Teller. »Er hat ja sogar Macht über mich. Mir ist jedes Mal unbehaglich zumute, wenn ein neuer Patient meine Praxis betritt. Wenn jemand anruft und wieder auflegt, ohne sich zu melden. Und beim Anblick eines Briefs mit unbekanntem Absender bekomme ich Herzklopfen. Dieser Mann nennt sich nicht umsonst Schattengänger - er betrachtet uns aus dem Dunkeln heraus, während wir im vollen Scheinwerferlicht auf der Bühne stehen. Und du behauptest, er hat keine Macht über dich?«
Imkes Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Hände zitterten. Sie versteckte sie unter dem Tisch.
»Erzähl es Jette«, bat Tilo sanft. »Schon damit sie vorsichtig ist.«
Bingo, dachte Bert. Das waren exakt die falschen Worte.
»Du meinst …« Imke starrte Tilo an. »Du glaubst, Jette ist in …«
»Sie ist nicht mehr oder weniger gefährdet als jeder andere Mensch aus Ihrem Umfeld«, kam Bert Tilo zuvor. »Es ist einfach von Vorteil, wenn die Leute die Augen offen halten. Zerren Sie den Täter aus seiner Deckung. Er soll wissen, dass die Menschen, die Sie umgeben, wachsam sind.«
»In Ordnung. Ich werde es Jette sagen.« Imkes Blick wanderte zu den Fenstern, die den Wintergarten begrenzten. Dahinter lag das Land in völliger Finsternis.
Bert musste Tilo zustimmen. Sie saßen hier wie auf einer Bühne. Und vielleicht hatten sie auch in diesem Moment ein Publikum. Einen Mann, der nicht das Recht hatte, dem Stück zuzuschauen, das auf der Bühne gespielt wurde.
Wir hatten uns in unserem Bauernhaus getroffen, um die letzten Aufräumarbeiten in Angriff zu nehmen, Dorit und Bob, Luke, Merle und ich. Dorit und Bob waren nicht nur Merles engste Freunde aus der Tierschutzgruppe, sie waren auch mir inzwischen ans Herz gewachsen.
Später am Abend wollte Claudio dazukommen. Das hatte Merle mir mitgeteilt, nachdem sie erfahren hatte, dass Luke mit von der Partie sein würde. Sie benahm sich ihm gegenüber ziemlich eigenartig, ablehnend, schroff, beinah schon feindselig. Wie eine eifersüchtige Ehefrau. Nichts konnte Luke ihr recht machen. Ständig war er ihr im Weg. Fasste er etwas an, nahm sie es ihm gleich wieder aus der Hand. Fiel ihm etwas hin, verzog sie das Gesicht, als hätte er Meißner Porzellan zertrümmert.
Luke ertrug es mit Gelassenheit, begegnete ihr sogar mit besonderer Freundlichkeit. Doch das machte sie nur unleidlicher.
»Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte ich sie, als wir für einen Moment allein im Schuppen waren und im blassen Licht einer knisternden, flackernden Neonlampe die Sachen für den Sperrmüll sortierten.
»Du kennst ihn doch überhaupt nicht«, legte sie los, als hätte sie nur auf meine Frage gewartet. »Und trotzdem führt er sich auf, als wäre er seit Jahrhunderten dein Freund.«
»Klingt, als hieltest du ihn für einen Vampir.«
»Lass die Witze, Jette! Du weißt, was ich meine.«
»Weiß ich nicht! Hast du mir nicht all die Monate gepredigt, ich solle mich nicht in meiner … Trauer verkriechen?«
Merle ließ den dreibeinigen Stuhl fallen, den sie auf den Haufen kaputter Möbel werfen wollte. Sie drehte sich zu mir um und nahm mich in die Arme.
»Entschuldige, Jette!« Sie brach in Tränen aus. Ihr Atem verfing sich heiß und feucht in meinen Nackenhaaren. Ihre Tränen durchweichten die Schulter meines T-Shirts. »Ich kann mir das auch nicht erklären. Es ist … ich hab einfach Angst um dich.«
Ich streichelte ihren Rücken und hielt sie ganz fest. So blieben wir, bis wir Schritte hörten.
»Oh«, sagte Luke und wollte auf dem Absatz kehrtmachen.
»Komm rein.« Merle wischte sich die Augen, wobei sie Staub und Schmutz großflächig auf den Wangen verteilte.
Luke blieb unschlüssig im Tor stehen. Er traute dem Braten nicht.
Merle löste sich mit einem schiefen Lächeln aus meiner Umarmung und trat auf ihn zu. »Wenn du Jette jemals wehtust«, sagte sie leise, »dann gnade dir Gott.« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Kuss und ließ uns allein.
Imke hatte hin und her überlegt, wie sie das Gespräch mit ihrer Tochter möglichst schonend gestalten könnte, aber sie war keinen Schritt weitergekommen. Schließlich hatte sie beschlossen, es am Telefon zu versuchen. Dabei würde Jette nicht in ihren Augen lesen können, was von Vorteil war, denn Imke hatte ihre Gefühle noch nie gut verstecken können.
»Hallo, Mama.«
Im Hintergrund hörte Imke hallende Geräusche und Stimmen.
»Störe ich dich?«
»Nein. Wir sind in unserm Haus. Die letzte
Weitere Kostenlose Bücher