Der Schattengaenger
Aufräumrunde, dann fangen wir mit dem Streichen an.«
»Ich kann dich auch später …«
»Nicht nötig, Mama. Ich geh in ein Zimmer, wo es ruhig ist.«
Die Hintergrundgeräusche nahmen ab. Imke konnte den leisen Atem ihrer Tochter hören. Genau so hatte er früher geklungen, wenn Jette am Küchentisch gesessen und ein Bild gemalt hatte, die kleine rosige Zungenspitze im Mundwinkel, der schmale Körper angespannt vor Konzentration.
»Okay. Leg los.«
»Ich wollte nur … der Kommissar meinte …« Imke ärgerte sich über sich selbst. Kaum zu glauben, dass Worte ihre Leidenschaft waren.
»Der Kommissar?«
Zwei halbe Sätze, und es war Imke gelungen, ihre Tochter zu beunruhigen. Das Gegenteil davon hatte sie beabsichtigt.
»Eigentlich wollte ich dir gar nichts davon sagen, aber Tilo redet mir die ganze Zeit ins Gewissen und der Kommissar … also, die Sache ist die …«
Imke hätte sich selbst einen Tritt geben können. War sie denn nicht ein einziges Mal imstande, ihrer Tochter das Gefühl zu vermitteln, die Dinge im Griff zu haben, wie jede andere Mutter auch?
»Ich werde … wie soll ich das ausdrücken … sagen wir: belästigt.«
Gottogott, dachte Imke. Das entsprach jetzt nicht gerade den Richtlinien aus dem Handbuch der Pädagogik.
»Belästigt?«
»Offenbar von einem … Fan.«
Jette schwieg. Imke spürte die Erwartung ihrer Tochter, aber wie sollte sie die befriedigen, ohne zu viel zu verraten? Sie hätte am liebsten aufgelegt und den ganzen dummen Anruf rückgängig gemacht. Sie hätte ihre Strategie, Jette nicht in ihre Angelegenheiten hineinzuziehen, beibehalten sollen. Doch nun war es zu spät. Das hatte sie Tilo und dem Kommissar zu verdanken.
»Er schwärmt für mich, schickt mir Mails, ruft an - wie das eben so ist.« Wie das eben so war? Keiner ihrer Fans hatte sie jemals so bedrängt.
»Und was hat der Kommissar damit zu tun?« Jette war nicht dumm. Sie hatte den Finger sofort auf die kritische Stelle gelegt.
»Ich finde, dieser Mann geht zu weit, und das kann ich nicht einfach so hinnehmen.« Vielleicht würde Jette das schlucken. Sie kannte ihre Mutter als konsequente, streitbare Person.
»Er macht dir Angst«, stellte Jette fest.
Wie hatte Imke nur glauben können, mit einem raschen Telefongespräch sei es getan. Jette ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. Sie hatte schon zu viel erlebt, um nicht die Untertöne in der Stimme ihrer Mutter wahrzunehmen. Es hatte keinen Sinn mehr, drum herumzureden.
»Das stimmt«, gab Imke deshalb zu. »Und ich dachte, es wäre besser, wenn ich für eine Weile von der Bildfläche verschwinde.«
»Dann machst du in Wirklichkeit gar keine Recherchen?«
»Doch. Ich verbinde sozusagen das Unangenehme mit dem Nützlichen.« Imke lachte leise, aber ihre Tochter lachte nicht mit.
»Ein Stalker«, sagte Jette und fasste die Informationen damit in dem Wort zusammen, das sie alle ständig feige umschrieben hatten.
Das Schweigen, das folgte, dauerte lange. Imke hätte viel dafür gegeben, die Gedanken ihrer Tochter hören zu können.
»Es ist gut, dass du wegfährst«, sagte Jette schließlich. »Und es ist gut, dass du es mir erzählt hast. Merle und ich werden die Augen offen halten.«
Genau das hatte Imke vermeiden wollen. »Das werdet ihr nicht tun, Jette! Ihr haltet euch da raus, verstanden? Versprich mir das!«
Keine Antwort.
»Jette!«
»Ich will mich nicht einmischen, Mama. Man muss nur aufmerksam sein, wenn man es mit einem Stalker zu tun hat. Kennst du ihn? Hast du ihn angezeigt?«
Imke zog sich einen Stuhl heran. Das würde ein längeres Gespräch werden. Tausend Dank, Tilo, dachte sie sarkastisch, gut gemacht, Herr Kommissar. Aber sie hatte nun einmal angefangen und musste es zu Ende bringen.
Niemand wusste, wo Jette abgeblieben war. Merle steckte den Kopf in jedes einzelne Zimmer. Sie fand ihre Freundin schließlich im Schweinestall, wo sie auf einem alten Futtertrog saß, das Handy in der Hand, und vor sich hin brütete.
»Alles paletti mit dir?«, fragte Merle und setzte sich vorsichtig neben sie. Der kalte Rand des groben Steins bohrte sich in ihre Oberschenkel.
Jette nickte und starrte weiter geradeaus.
Merle stützte sich mit den Händen ab, um den Druck zu reduzieren. Wieder meinte sie, einen Hauch von Viehduft wahrzunehmen, obwohl das unmöglich war. Der Hof war seit vielen Jahren nicht mehr bewirtschaftet worden.
»Diesmal ist es ein Stalker«, sagte Jette.
Merle konnte absolut nichts mit der Bemerkung
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