Der Schattengaenger
Ein Fläschchen Parfüm (ihres war fast aufgebraucht). Ein Lippenstift - mit Erdbeergeschmack (Zufall? Oder hatte er in der Vergangenheit gewühlt?).
Die Sachen lagen vor der Tür. Im Innenhof. In der Scheune. Im Stall. Als hätte ein Geist sie dort abgelegt, fähig, Mauern und verschlossene Türen zu durchdringen. Mit einem Mal war das Haus eingesponnen in einen Kokon aus Angst. Wenn Merle es betrat oder verließ, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Wie musste es da erst Jette ergehen?
Es gab Augenblicke, da unterhielten sie sich im Flüsterton. Als hätten die Wände Ohren. Dabei war Merle danach, ihre Empörung, die Scham und die Hilflosigkeit herauszuschreien. Er hat uns im Griff, dachte sie, und das darf nicht sein.
Der Kommissar nahm alles mit, um es auf Spuren untersuchen zu lassen. Er vermied es, Spekulationen anzustellen, und wich Fragen aus. Merle hatte den Eindruck, er spiele die Situation herunter.
»Kann es sein, dass der Typ auf Jette … sozusagen umgestiegen ist?«, hatte sie ihn neulich gefragt.
Der Kommissar hatte den Kopf geschüttelt. »Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt. Die meisten Stalker fixieren sich auf einen einzigen, ausgewählten Menschen.«
Nichts weiter. Kein Wort der Erklärung. Er schleicht um den heißen Brei herum, dachte Merle. Weil die Geschichte gefährlicher ist, als er zugeben will.
Erst jetzt hatte sie realisiert, was es wirklich bedeutete, dass Nacht für Nacht der Wagen eines Bullen vor der Haustür parkte. Erst jetzt hatte sie begriffen, dass Jette in die Geschichte hineingeraten war wie in Treibsand und dass dadurch auch sie selbst bis zum Hals drinsteckte, ebenso wie die Katzen. Der Kerl war ein Terrorist, eine tickende Zeitbombe. Ihn zu unterschätzen, wäre reiner Selbstmord.
An den Sachen wurden keine Fingerabdrücke gefunden, aber die Leute im Labor hatten ein einzelnes schwarzes Haar an dem roten Kleid entdeckt. Der Kommissar kam eigens deswegen vorbei.
»Ich hätte gern Namen und Anschrift sämtlicher schwarzhaariger Menschen aus Ihrem Bekannten- und Freundeskreis. Das ist bloße Routine«, setzte er hinzu. »Ich werde auch Frau Thalheim und Herrn Baumgart um eine Liste bitten.«
In Merles Kopf ratterte es. Auch in Jette schien es zu rotieren. Es gab eine erstaunliche Menge Schwarzhaariger in der Tierschutzgruppe. Claudio hatte dunkles Haar. Jettes Mutter, die ihre Farbe jedoch mit Tönungen auffrischte, gehörte ebenso zu der gesuchten Gruppe wie Tilo, dessen Haar allerdings schon reichlich mit Grau durchsetzt war. Jette und Merle selbst kamen nicht infrage - und auch Luke war, falls das Haar tatsächlich vom Täter stammte, damit aus dem Schneider.
»Das Haar könnte doch genauso gut einer Verkäuferin oder einem Verkäufer aus dem Geschäft gehören, in dem das Kleid gekauft worden ist«, wandte Jette ein. »Oder einer Kundin, die es anprobiert hat. Oder …«
Der Kommissar gab keine Antwort. Das war auch nicht nötig. Sein warnender Blick war eindeutig. Wagt es bloß nicht, signalisierte er. Fangt nicht mal ansatzweise an, über Aspekte des Falls nachzudenken.
»Er könnte ruhig ein bisschen mehr Vertrauen zu uns haben«, beklagte sich Jette, nachdem er sie wieder verlassen hatte.
»Dazu kennt er uns zu gut.«
Sie saßen im Hof. Die Sonne sprenkelte Mauern und Boden mit Flecken aus Licht. Alles wirkte heiter und friedlich. Für einen Stalker, dem die Sicherungen durchbrannten, war in dieser Stimmung überhaupt kein Platz.
»Das ist wahr.« Jette nickte abwesend. Sie war schon wieder in ihre Gedanken abgetaucht. Merle fragte sich, wie ihre Freundin das aushielt, die Angst um ihre Mutter, die Krise mit Luke, das gemeine Spiel des Stalkers. Leise stand sie auf, um im Haus die Türen und Fenster zu schließen. Sie hatte das gern erledigt, bevor die Dämmerung einsetzte und die Schatten sich verdichteten.
»Dir ist doch klar, dass wir allmählich eine Phobie entwickeln?«, fragte Jette.
»Immer noch besser, als tot zu sein.«
Jette rappelte sich auf und zog die Schultern zusammen. »Es wird kühl.«
Dabei war es angenehm warm, mindestens zwanzig Grad. Die Sonne ging eben erst unter und der Steinboden hatte die Wärme noch gespeichert. Als Merle das komplette Haus endlich sicher verriegelt und verrammelt hatte, fühlte sie sich so erleichtert, dass ihre Augen in Tränen schwammen.
Ich hatte schlecht geträumt und war froh, dass die Nacht vorbei war. Noch am Frühstückstisch klebten Reste des Traums an mir und ich konnte sie nicht
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