Der Schattengaenger
Stalker wollte? Dass wir unvorsichtig wurden und ihn zu meiner Mutter führten?
Ich hätte gern das Verdeck zurückgefahren, doch es war Wind aufgekommen und es sah nach Regen aus. Dabei war für heute Sonnenschein angesagt, mit einigen lockeren Wolkenfeldern.
»Schau mal, dahinten.«
Ich blickte in die Richtung, in die Manuels Finger zeigte. Das sah nicht nur nach Regen aus, da braute sich ein Unwetter zusammen.
»Vielleicht sollten wir lieber umkehren«, sagte ich.
Er nickte.
Doch wir fuhren weiter.
Vielleicht suchte er nach einer geeigneten Stelle, um zu wenden. Aber wieso nutzte er nicht die Möglichkeiten, die sich anboten? An mindestens fünf Feldwegen war er bereits vorbeigebraust, obwohl drei davon asphaltiert gewesen waren und breit genug, um mit einem Lastwagen darauf zu drehen.
Die schwarze Wolkenwand näherte sich. An ihrem aufgerissenen Rand konnte man erkennen, dass in der Ferne ein Wolkenbruch niederging. Es wurde merklich dunkler.
»Hast du Angst vor Gewittern?«, fragte Manuel.
Ich schüttelte den Kopf. Nirgends, das hatte ich gelernt, war man während eines Gewitters sicherer als in einem Auto, weil es wirkt wie …
»Ein Auto wirkt wie ein Faraday’scher Käfig«, erklärte Manuel. »Es schirmt zuverlässig gegen …«
»… äußere elektrische Felder ab«, beendete ich seinen Satz.
Er warf mir einen überraschten Blick zu und wandte sich dann wieder der Straße zu. Diesmal berührte mich sein Schweigen unangenehm.
Der Wind war jetzt so stark, dass sich die Bäume unter ihm bogen.
»Noch ein paar Kilometer«, sagte Manuel, »dann kommt ein Parkplatz. Ich schau mir noch mal kurz den Motor an, dann kehren wir um, okay?«
Der Himmel verdunkelte sich jetzt mit einer solchen Geschwindigkeit, dass Manuel das Licht anmachen musste. Die schwarze Wolkenfront war beinah schon über uns.
»Kein Wunder, dass die Menschen früher bei so etwas glaubten, die Welt würde untergehen«, sagte ich.
»Manche glauben heute noch daran«, antwortete er.
Ich musterte ihn von der Seite, konnte jedoch nicht ausmachen, ob das ein Scherz sein sollte oder nicht. Niemand kam uns entgegen. Niemand überholte uns. Als hätten alle irgendwo angehalten, um das Unwetter abzuwarten, oder als wäre keiner außer uns unterwegs. Blätter tänzelten über die Straße. Ein Zweig klatschte gegen die Windschutzscheibe.
»Ein denkwürdiger Tag«, sagte Manuel.
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, schwarzen Mann, schwarzen Mann, wer hat Angst …
Das alte Kinderlied spielte in meinem Kopf, während die Dunkelheit sich auf uns legte. Nie zuvor hatte ich erlebt, dass es mitten am Tag Nacht wurde, außer bei einer Sonnenfinsternis, doch genau das passierte nun.
Die ersten Blitze zuckten über den Himmel. Ich hatte auch diesmal keine Angst vor dem Gewitter, aber mir wurde mit einem Mal bewusst, dass ich Manuel überhaupt nicht kannte und dass ich mich auf diese Fahrt nicht hätte einlassen dürfen.
Bert sah fasziniert aus dem Fenster. Die Vögel hatten aufgehört zu singen. Die ersten Regentropfen fielen.
Und dann brach das Unwetter los. Der Wind fegte den Regen über die Dächer. Hagelkörner prasselten gegen die Fensterscheibe. In wenigen Sekunden waren die Rinnsteine voller Wasser, das auf die Kanaldeckel zuströmte. Blitze hellten grell den Himmel auf und ließen ihn umso schwärzer zurück.
Bert hatte seinen Computer vorsichtshalber ausgeschaltet. Er hatte kein Licht angemacht. In völliger Dunkelheit stand er am Fenster und sah auf ein Naturschauspiel hinaus, wie er es noch nie erlebt hatte.
Die Nachricht, die er gerade bekommen hatte, passte zu einem solchen Morgen. Das Haar, das sie an dem roten Kleid gefunden hatten, konnte nach Abgleich mit der DNA-Kartei des Bundeskriminalamts niemandem zugeordnet werden.
Sie kamen keinen Schritt weiter.
An den Rändern der Straße hatte sich das Wasser gesammelt und spritzte in hohen Fontänen unter den Reifen auf. Manuel drosselte das Tempo. Weltuntergang, dachte er. Der Himmel stürzt ein und begräbt alles Leben unter sich.
Das Mädchen schien keine Angst zu haben. Genauso wenig wie er selbst.
Trotzdem war sie ihm zuwider.
Weil sie Imkes ungeteilte Zuneigung besaß.
Er wünschte ihr die Pest an den Hals.
Manuel bog von der Straße ab, ohne zu blinken. Wozu auch, es war kein anderer Wagen in Sicht. Auch der Parkplatz war leer. Sie waren vollkommen allein mit dem Wind, dem Regen und den Blitzen am Himmel.
Tilo hörte der Patientin zu, die von den
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