Herbstvergessene
Jahrelang habe ich mir gewünscht, ich könnte aufhören zu rauchen. Ich wollte frei sein von diesem Zwang, frei von dem Drang, nach einer bestimmten Zeit, spätestens nach zwei Stunden, wieder in die Packung zu greifen und mit spitzen Fingern eine Zigarette herauszuangeln. Der erste Zug war das eigentliche Antriebsmoment, schließlich ist nichts so gut wie das erste Mal. Und dabei meine ich nicht die ungeschickten Versuche zweier junger Menschen, sich körperlich näher zu kommen. Nein, ich spreche vom ersten Zug, vom ersten Schluck, egal, ob Kaffee, egal, ob Wein oder, wenn es sein musste, Grappa. Und manchmal musste es einfach sein.
Auf jeden Fall war das Nikotin ihr, Mutters, Erbe an mich, und wenn es eines gab, was wir gemeinsam hatten, dann war es unsere Leidenschaft fürs Rauchen im Allgemeinen und für den »ersten Zug« im Besonderen. Ich erinnere mich noch gut an ihren Gesichtsausdruck, wenn sie neben mir am Fenster stand, die Hand in den Ärmel geschoben, und ich hin und wieder ihr Profil betrachtete, unbemerkt zusah, wie sie die Augen schloss und inhalierte. Sie hatte dann für eine Weile – die Zeit, die es dauert, eine Zigarette zu rauchen – etwas Mildes und Ruhiges an sich, eine Kompromissbereitschaft, die kurz darauf, wenn sie mit ihren knochigen Fingern die Zigarette in den Aschenbecher aus Kristallglas drückte, verschwunden war. Und mit der Zigarette verglomm auch die fast schwesterliche Sympathie, die ich in diesen Augenblicken für sie empfand. Mutter.
Es hätte anders sein können, das Verhältnis zu meiner Mutter, und dass ich sie so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte,war allein meine Schuld. Ich hatte ihre Erwartungen nicht erfüllt. Sie hat es nie verwunden, dass ich kurz vor den Abschlussprüfungen zum Konferenzdolmetscher das Handtuch geworfen habe, ohne triftigen Grund, in ihren Augen. Trotz hervorragender Leistungen und der Aussicht auf einen Job bei den Vereinten Nationen. Ich hätte viel Geld verdient, regelmäßig noch dazu, doch was das Ausschlaggebende gewesen wäre: Sie hätte
stolz
auf mich sein können. Auf
ihr Mädel
, das es, wie sie, geschafft hatte. Aber leider oder Gott sei’s gedankt war es beim Konjunktiv geblieben:
Sie hätte stolz sein können!
Ein Lehrsatz wie aus einem Standardwerk
Deutsch für Ausländer
. Stattdessen habe ich der Welt des geschliffenen Wortes und damit auch Mutter den Rücken gekehrt und das gemacht, was schon immer mein Traum gewesen war: Ich hatte bei einem Freund in England eine Ausbildung als
Interior Decorator
und
Upholsterer
gemacht. Was für eine brotlose Kunst!
Und als an diesem Sonntagvormittag das Telefon klingelte und Wolf mir den Hörer reichte und mit hochgezogenen Augenbrauen stumm die Worte »Lilli Sternberg« formte, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Das Schweigen zwischen meiner Mutter und mir dauerte nun schon zehn Jahre und unser Verhältnis, wenn man es denn noch als ein solches bezeichnen konnte, war auf je zwei Postkarten pro Jahr geschrumpft: eine zu unseren Geburtstagen und eine zu Weihnachten. Wir tauschten diese Karten jedes Jahr und in stummer Sturheit aus, und da wir beide demselben Sternzeichen angehören, das für seine Ausdauer bekannt ist, hatte ich manchmal die Vorstellung, wir würden auch nach unserem Tod noch Grußkarten austauschen.
Wolf hielt mir immer noch gestikulierend den Hörer hin und rollte mit den Augen, bis ich mich überwand, danach zu greifen.
»Hallo? Wer spricht denn da?«, hörte ich mich selbst sagen, absurderweise. Ich hielt den Hörer fest umklammert, und alsmir ein barsches »Nun tu doch nicht so gschamig« entgegenbellte, wusste ich, dass sie es wirklich war. Ich hielt den Atem an, trotz allem ungläubig, ihre Stimme zu hören, die noch rauer, noch krächzender geworden war, eine richtige Raucherstimme, ein weiblicher Joe Cocker. Einen kurzen Augenblick lang lauschten wir beide dem summenden Schweigen in der Leitung, und als täte ihr der harsche Auftakt plötzlich leid, fragte sie: »Wie geht’s dir?«
Ich straffte die Schultern und wandte mich abrupt um, weg von Wolfs forschendem Blick, von der Besorgnis, die er ausstrahlte. Ich räusperte mich und antwortete mit fester Stimme: »Es geht uns gut. Danke.« Und eine Weile später, als ich die Stille nicht mehr aushielt, fragte ich: »Und dir? Bist du krank?«
Ich hörte sie schnauben, doch ihre Antwort klang überraschend milde, was mir mehr Sorgen machte, als wenn sie mich angeherrscht hätte.
»Es ist
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