Der Schattengaenger
Kreischen der Möwen hoch oben in der Luft klang hungrig und aggressiv. Schaumkronen tanzten auf den Wellen, und der Sand brannte Mia unter den Füßen.
Imke liebte es, im Winter über den Sommer zu schreiben oder umgekehrt. Es waren die Jahreszeiten ihrer Kindheit, die sie in ihren Büchern schilderte, denn damals hatte sie sie so intensiv erlebt wie danach niemals mehr.
Weil sich ein Kind von seinen Gefühlen nicht ablenken lässt, dachte sie. Und weil es alles zum allerersten Mal erlebt.
Sie beugte sich gerade wieder über die Tastatur, als ein Geräusch sie ablenkte. Es war ein feines, spitzes Geräusch und Imke erkannte es in Sekundenschnelle. In dem Augenblick, als sie den Laut eingeordnet hatte, wiederholte er sich, und Imke duckte sich Schutz suchend über die Tastatur.
Jemand warf Steinchen gegen ihr Fenster!
Plötzlich war es wieder still. Als wollte dieser Jemand ihr eine Atempause gewähren.
Dann ein heftiges Prasseln. Von vielen Steinchen auf einmal.
Als wollte der da draußen sich endgültig Gehör verschaffen.
Imke glitt vom Stuhl und kroch auf dem Boden zum Lichtschalter. Dann kauerte sie mit klopfendem Herzen in der Dunkelheit.
Er war in ihrem Garten!
Es hatte keinen Sinn, Tilo zu wecken. Er stand unter Medikamenten und würde gar nicht reagieren können. Außerdem durfte sie keine weitere Verletzung riskieren. Tilo wäre nicht in der Lage, einen Kampf auszufechten.
Und wenn sie den Kommissar anrief?
Wo war das verdammte Telefon? Hatte sie es zum Aufladen unten auf die Station gestellt?
Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ihr Herz wieder in einem vernünftigen Tempo schlug, stand Imke langsam auf und bezog seitlich am Fenster Position. Sie überwand sich, hielt den Atem an und spähte hinaus.
Da war nichts, was nicht dorthin gehörte. Die Wolkendecke verschob sich und gab für einen Moment den Mond frei, und das Land wurde von seinem kalten Lichtschein erhellt wie eine Bühne, auf die ein einziger Scheinwerfer gerichtet ist.
Imke konnte jetzt einen huschenden Schatten bei der Scheune erkennen und sah im nächsten Augenblick, wie sich mit einem zornigen Ruf der Bussard vom Scheunendach in die Luft erhob.
Jemand hatte ihn aufgeschreckt. Jemand, dessen Namen Imke kannte.
Der Schattengänger.
Es war früher Morgen, als Luke mich nach Hause brachte. Wir hatten die ganze Nacht geredet und die Zeit war uns zwischen den Fingern zerronnen. Luke hatte mich zum Essen in sein griechisches Lieblingslokal ausgeführt und mir dann all seine Lieblingsplätze gezeigt.
Er hatte mich in seinem Wagen herumkutschiert, einem Volvo, der es an Jahren locker mit meinem betagten Renault aufnehmen konnte, und immer wieder waren wir ausgestiegen, um eine Bank an einem See zu betrachten, eine Waldlichtung im Mondlicht oder eine Skulptur in einem Park.
Es waren Plätze, die mir auf Anhieb gefallen hatten, und es hatte mir noch mehr gefallen, dass Luke überhaupt ein Mensch mit Lieblingsplätzen war.
»Jetzt weißt du alles über mich«, hatte er schließlich mit einem lakonischen Schulterzucken bemerkt, und ich hatte ihn skeptisch angeguckt. »Na ja.« Er war sich mit den Fingern durchs Haar gefahren, eine Geste, die ich an diesem Abend schon ein paar Mal beobachtet hatte. »Jedenfalls eine ziemliche Menge.«
Dabei wusste ich noch gar nichts über ihn.
Er hatte mir erzählt, dass er Jura studierte. Dass er das unglaublich spannend fand. Es ist ein Abenteuer, sich in der Welt der Gesetze zu bewegen. Und dass er schon als kleiner Junge davon geträumt hatte, unschuldige Menschen vor dem Gefängnis zu bewahren.
»Der Ritter ohne Furcht und Tadel?«, hatte ich gespöttelt.
»Vielleicht ein bisschen.«
Ich dachte daran, dass Merle sich wunderbar mit ihm würde streiten können. Als militante Tierschützerin setzte sie sich völlig entspannt über eine ganze Reihe von Gesetzen hinweg. Und ich überlegte, dass Jura zu den Studienfächern gehörte, für die ich mich nie im Leben einschreiben würde.
»Ich habe immer gedacht, Jura wär trocken und …«
»Langweilig?«
»… zum Sterben öde.«
»Glaub mir, es ist das heißeste Fach seit der Erfindung der Unis.«
Seine Augen leuchteten, und ich mochte das mehr, als mir lieb war. Es haute mich um, dass ein Studienfach wie Jura einen Menschen ins Schwärmen geraten lassen konnte.
»Und außerdem mache ich ja noch einiges nebenher.«
»Den Job als Makler.«
»Zum Beispiel.«
»Was noch?«
»Uninteressant«, wich er aus. »Verrate
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