Im Fischernetz (German Edition)
UNGEBETENER BESUCH
Das Meer schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne kupferrot. Frischer Wind wehte vom Wasser her, er schmeckte nach Salz und roch nach Algen. Regelmäßig wie ein ruhiger Herzschlag brachen sich die rauschenden Wellen am Ufer. Sayain holte tief Atem, schloss die Augen und genoss die sanften Finger des Windes, die durch sein Haar strichen. Die silberweißen Strähnen reichten ihm fast bis zu den Hüften und waren im Augenblick alles, was seinen schlanken Körper bedeckte. Das Meer liebkoste seine Füße, Gischt spritzte auf seine schimmernde Haut. Die Wellen riefen ihn. Er hörte und er spürte das Lied des Wassers tief in sich.
Er hatte es schon immer gehört, als kleines Kind schon. Damals hatte ihm das Lied der Wellen nur wenig Freude und noch weniger Freunde beschert. Den Fischern, die ihn auf der Schwelle ihres Tempels gefunden hatten, war er schon in jungen Jahren unheimlich gewesen – ein schmales, fahlhäutiges und fremdes Kind mit großen, mandelförmigen Augen von einem schimmernden Aquamarinblau, silbrigem Haar und spitz zulaufenden Ohren, die fast wie Flossen aussahen. Seine Ziehmutter hatte ihn liebevoll »Fischchen« genannt. Sie war die Einzige, die in ihm ein Geschenk der Meeresgötter gesehen hatte, das die Menschen in dem kleinen Fischerdorf nicht ablehnen durften, wenn sie nicht den Zorn der Götter auf sich ziehen wollte. Sayain hatte schneller schwimmen als laufen gelernt, nie Angst vor dem Wasser gehabt und war am liebsten nackt und nass gewesen. Die Fischer hatten nie herausfinden können, woher Sayain stammte, und er selbst hatte es nie versucht, auch jetzt nicht, da er allein, zurückgezogen und scheu wie ein wildes Tier in den Ruinen von Thalessia lebte.
Allein zu sein machte ihm nichts mehr aus. Er hatte das Meer, den Wind und sich selbst, das war genug. Wenn er sich nach einer liebevollen Berührung sehnte, dann warf er sich in die Fluten und sank in die Arme des Meeres, die ihn willkommen hießen. Im Meer war er frei. Im Meer war er er selbst. Im Meer zeigte sich sein inneres Wesen und gab ihm eine andere, bessere Form.
Sayain kletterte auf einen Felsen, einen Moment stand er still dort oben und ließ sein Haar im Wind wehen, dann stieß er sich ab und sprang. Eiskalt schloss sich das Wasser um ihn. Wie Messer bohrte sich die Kälte in seinen Leib – doch nur für einen Augenblick, dann war es vorbei, und ein Gefühl tiefer Ruhe überkam ihn. Für einen Moment war da nichts als die wirbelnde Strömung, die Luftblasen, die von seinen Lippen aufstiegen. Für einen Moment schien sein Körper eins zu werden mit dem Wasser. Er spürte, wie er selbst zu Wasser wurde, seine Form verlor, zerfloss und wieder an Substanz gewann. Das erste Mal hatte ihm die Verwandlung Angst eingeflößt. Angst, sich selbst zu verlieren, sich vollkommen im Wasser aufzulösen und nie wieder an Land gehen zu können. Doch dann hatte er die andere Gestalt gefunden in diesem neuen, fließenden Selbst und hatte sie festgehalten – den schimmernden, schlanken, kräftigen Körper des Fisches, der pfeilschnell durch die Fluten schoss. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie dieser Körper aussah. Es war ihm gleich. Dieser Körper war gut.
Er liebte das Spiel mit dem Wasser. Wie oft schon hatte er sich darin verloren...
Manchmal dachte er darüber nach, wie es war, nicht zurück zu kommen, dem Land ein für allemal den Rücken zu kehren. Doch etwas war trotz des Singens der See in seinem Blut, das dem Land gehörte. Er war beides - Land und See, Wasser und Erde.
Sayain verfolgte einen Schwarm silbriger Sardinen, als er die kaum merkliche Veränderung in der Strömung spürte. Er fühlte sie mit dem ganzen Körper, wie einen sanften Stoß in die Seite. Vergessen war das Spiel – diese neue Strömung war seltsam. Sie war nicht das Zeichen des Gezeitenwechsels, nicht das Aufbegehren des Meeres gegen einen kommenden Sturm. Aufmerksam hielt er inne, schwebte von winzigsten Flossenschlägen getragen fast reglos im Wasser und sah sich um. Seine Unterwasserwelt schimmerte in allen Abstufungen von Blau und Grün, Licht brach sich tausendfach im Wasser. Ein Schatten zog langsam über ihn hinweg, gefolgt von vielen kleinen Strömungswirbeln, die ihn streichelten, schoben und zogen. Ein Fisch konnte es nicht sein, auch keiner der mächtigen Wale, die manchmal vor der Küste von Thalessia entlangzogen . Die Wale kamen nie so nah an die Küste, sie wussten instinktiv, dass das Wasser in der Bucht nicht
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