Der Schattenprinz
er eingeschlafen. Pagan dachte noch eine Weile an seine Heimat. Dann ging auch er zu den Kindern hinüber. Melissa schlief immer noch tief und fest, eine Flickenpuppe im Arm. Die Puppe war schon alt, hatte keine Augen mehr und nur noch zwei dünne Strähnen aus gelben Fäden als Haare.
Steiger hatte ihm von seiner seltsamen religiösen Überzeugung erzählt. Die Götter, sagte Steiger, sind alle so alt, daß sie senil geworden sind. Ihre ungeheure Macht entlud sich jetzt in sinnlosen Spielen mit den Menschen. Die Götter führten sie in die Irre und brachten sie in schreckliche Situationen.
Pagan wurde rasch zum Gläubigen.
Ein fernes Heulen hallte durch die Nacht. Dann ein zweites und ein drittes. Pagan fluchte leise und zog sein Schwert. Er nahm einen kleinen Wetzstein aus seinem Lederbeutel, spuckte darauf und schärfte die Schwertklinge; dann band er die Axt von der Satteltasche und schärfte auch diese.
Der Wind drehte, so daß er ihren Geruch nach Osten trug. Pagan wartete, während er leise zählte. Er war bei achthundertsieben angekommen, als das Heulen an Intensität zunahm. In Anbetracht der veränderlichen Windgeschwindigkeit bedeutete dies, daß die Bastarde zwischen zwölf und achtzehn Kilometer hinter ihnen waren - und das war nicht genug.
Das Barmherzigste wäre es, allen Kindern lautlos im Schlaf die Kehle durchzuschneiden und ihnen so das Grauen zu ersparen, das sie erwartete. Doch Pagan wußte auch, daß er drei von den Kleinsten auf seinem Pferd mitnehmen konnte.
Er zog seinen Dolch und schlich zu ihnen.
Aber welche drei?
Mit einem unterdrückten Fluch rammte er den Dolch wieder in die Scheide und weckte Ceorl.
»Die Bastarde sind in der Nähe«, sagte er. »Weck die Kinder - wir müssen weiter.«
»Wie nahe sind sie?« fragte Ceorl mit vor Angst weit aufgerissenen Augen.
»Eine Stunde hinter uns, wenn wir Glück haben.«
Ceorl rollte sich auf die Füße und ging zu den Kleinsten. Pagan setzte sich Melissa auf die Schultern. Sie ließ die Puppe fallen, und er hob sie wieder auf und stopfte sie in seine Tunika. Die Kinder drängten sich um ihn.
»Siehst du die Gipfel da drüben?« fragte er Ceorl. »Geht in diese Richtung! Ich komme wieder.«
»Versprichst du es?«
»Ich verspreche es.« Pagan schwang sich in den Sattel. »Setz zwei der kleineren Kinder hinter mich.« Ceorl tat wie ihm geheißen. »Und jetzt haltet euch gut fest, Kinder - wir machen einen Ausritt.«
Pagan gab seinem Hengst die Sporen, der in die Nacht davonschoß und die Strecke bis zu den Bergen in Windeseile zurücklegte. Melissa wachte auf und fing an zu weinen, und so zog Pagan die Puppe aus seiner Jacke und drückte sie dem Mädchen in die Arme. Nachdem sie einige Minuten schnell galoppiert waren, sah er rechts von ihnen einen vorspringenden Felsen. Er lenkte den Hengst dorthin zwischen die Blöcke. Der Pfad war nur schmal, weniger als anderthalb Meter breit, und erweiterte sich oben zu einer flachen Senke. Sie hatte keinen anderen Zugang als den Pfad.
Pagan half den Kindern vom Pferd. »Wartet hier auf mich«, sagte er und ritt wieder hinab in die Ebene. Fünfmal legte er die Strecke zurück, und beim letztenmal hatten Ceorl und die vier anderen älteren Jungen den Felsen fast erreicht, als Pagan noch einmal loswollte. Er sprang aus dem Sattel und reichte dem Jungen die Zügel.
»Bring das Pferd oben in die Senke und wartet dort auf mich.«
»Was hast du vor?«
»Tu, was ich dir sage, Kind!«
Ceorl trat einen Schritt zurück. »Ich wollte doch nur helfen.«
»Tut mir leid, mein Junge. Halte dein Messer bereit. Ich versuche, sie aufzuhalten. Aber wenn sie durchkommen … benutz dein Messer für die jüngsten Kinder. Verstehst du?«
»Ich glaube, das kann ich nicht«, stammelte Ce-orl.
»Dann tu, was dein Herz dir sagt. Viel Glück, Ceorl!«
»Ich . Ich will aber nicht sterben.«
»Ich weiß. Und jetzt geh hinauf und tröste sie.«
Pagan zog seine Axt aus dem Sattel und band Köcher und Bogen los. Der Bogen war aus vagri-schem Horn, und nur ein sehr starker Mann konnte ihn spannen. Pagan setzte sich auf den Pfad und spähte nach Osten.
Es hieß, daß die Könige auf dem Opalthron immer wußten, wann ihr Tag gekommen war.
Pagan wußte es.
Er legte die Sehne auf den Bogen und zog seine Tunika aus, so daß der Nachtwind seinen Körper kühlen konnte.
Mit tiefer Stimme begann er, das Lied der Toten zu singen.
Am vereinbarten Treffpunkt saßen Ananais und seine Offiziere beisammen und besprachen die
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