Der Schattenprinz
die dazu führten, daß sie sich ineinander verkeilten und zu Boden gingen.
»Ihr Mistratten!« brüllte der blonde Riese. »Ihr wollt Soldaten sein?«
Die Bilder verblaßten vor der geisterhaften weißen Leere der Wirklichkeit, und Tenaka schauderte. Er ging zum Brunnen, neben dem ein alter Eimer lag, dessen Henkel noch immer an ein verrottetes Tau geknotet war. Er ließ den Eimer in den Brunnen hinab und hörte, wie das Eis brach; dann zog er ihn hinauf und trug ihn zum Drachen.
Die Farbe war nur schwer herunterzubekommen, doch er arbeitete fast eine Stunde daran und schabte die letzten roten Spuren mit seinem Dolch ab.
Dann sprang er zu Boden und betrachtete sein Werk.
Selbst ohne die Farbe sah der Drache bedauernswert aus, sein Stolz zerbrochen. Tenaka dachte wieder an Ananais.
»Vielleicht ist es besser, daß du gestorben bist, als das hier sehen zu müssen«, sagte er.
Es begann zu regnen, eisige Nadeln, die in sein Gesicht stachen. Tenaka warf sich sein Bündel über die Schulter und lief zu den verlassenen Unterkünften. Die Tür stand auf, und er trat in das ehemalige Offiziersquartier. Eine Ratte huschte ins Dunkel, als er vorbeiging, doch Tenaka beachtete sie nicht und ging zu den größeren, nach hinten gelegenen Räumen. Er ließ sein Gepäck in seinem alten Zimmer und kicherte, als er den Kamin sah: Holz war daneben aufgestapelt und alles für ein Feuer vorbereitet.
Am letzten Tag mußte jemand in sein Zimmer gekommen sein und das Holz aufgeschichtet haben, obwohl er gewußt hatte, daß sie fortgingen.
Decado, sein Bursche?
Nein. Decado besaß keine romantischen Züge.
Er war ein bösartiger Killer, der nur von der eisernen Disziplin des Drachen und seinem eigenen ausgeprägten Sinn für Loyalität gegenüber dem Regiment in Zaum gehalten wurde.
Wer war es dann gewesen?
Nach einer Weile gab Tenaka es auf, in seiner Erinnerung nach Gesichtern zu suchen. Er würde es nie erfahren.
Nach fünfzehn Jahren sollte das Holz trocken genug für ein rauchloses Feuer sein, sagte er sich und legte frischen Zunder unter die Scheite. Bald leckten Flammenzungen empor, und das Feuer begann zu flackern.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus ging Tenaka zu der holzgetäfelten Wand und suchte nach der verborgenen Nische. Früher war sie bei der leisen Berührung des Knopfes aufgesprungen, jetzt knirschte die verrostete Feder. Sanft drückte er die Täfelung auf. Dahinter befand sich eine kleine Vertiefung, die entstanden war, als man einen Stein entfernt hatte, viele Jahre, bevor der Drache aufgelöst wurde. Auf der Rückseite stand in der Sprache der Nadir:
Nadir sind wir der Jugend geboren Blutvergießer und Äxteschwinger doch Sieger sind wir.
Zum erstenmal seit Monaten lächelte Tenaka, und ein Teil der Last wurde von seiner Seele genommen. Die Jahre fielen von ihm ab, und er sah sich wieder als junger Mann aus der weiten Steppe, der gekommen war, seinen Dienst beim Drachen anzutreten. Er konnte wieder spüren, wie seine neuen Bruderoffiziere ihn anstarrten - und ihre kaum verhohlene Feindseligkeit.
Ein Nadirprinz beim Drachen? Das war unvorstellbar, ja, obszön. Doch unbestreitbar war dieser junge Bursche ein besonderer Fall.
Nach den Ersten Nadirkriegen vor hundert Jahren hatte Magnus Wundweber den Orden des Drachen gebildet, als der unbesiegbare Kriegsherr Ulric seine Horden gegen die Mauern von Dros Delnoch führte, der mächtigsten Festung der Welt, wo er von dem Bronzegrafen und dessen Kriegern jedoch zurückgeschlagen wurde. Der Drache sollte für die Drenai eine Waffe zum Schutz gegen künftige Invasionen der Nadir sein.
Und dann, wie ein Wirklichkeit gewordener Alptraum - und während die Erinnerungen an den Zweiten Nadirkrieg noch frisch waren - war ein Stammesangehöriger der Nadir ins Regiment aufgenommen worden. Schlimmer noch, er war ein direkter Nachfahre von Ulric. Und doch hatten sie keine andere Wahl, als ihm seinen Säbel zu überreichen.
Denn er war nur von der mütterlichen Seite her ein Nadir.
Von der väterlichen Seite war er der Urenkel von Regnak, dem Wanderer: dem Bronzegrafen.
Das war ein Problem für diejenigen, die ihn so gern gehaßt hätten.
Wie konnten sie einen Nachfahren des größten Helden der Drenai hassen? Es war nicht leicht für sie, aber sie schafften es.
Ziegenblut wurde auf Tenakas Kissen verschüttet, Skorpione in seinen Stiefeln versteckt. Seine Sattelgurte wurden angeschnitten, und schließlich legte man ihm sogar eine Viper ins Bett.
Die Schlange
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