Der Schattenprinz
offenen Gelände ohne Pferde und ohne eine Rückzugsmöglichkeit.«
»Heißt das, du kritisierst Tenakas Plan?« fragte Abaddon.
»Nein«, antwortete Balan. »Wir alle hier sind Studenten des Krieges, und taktisch ist seine Kampfstrategie durchdacht, technisch brillant, sogar. Aber sie hat bestenfalls eine dreißigprozentige Erfolgschance.«
»Sechzig«, widersprach Decado.
Balan hob eine Augenbraue. »Wirklich? Erklär mir das.«
»Ich weiß, daß ihr über Kräfte verfügt, die über die normaler Menschen weit hinausgehen. Ich weiß auch, daß ihr sehr viel von Strategie versteht. Aber hüte dich vor Stolz, Balan.«
»Inwiefern?« fragte Balan mit der Andeutung eines höhnischen Lächelns.
»Weil eure Ausbildung eben nur Ausbildung war. Wenn wir die Schlacht als Spiel um Chancen betrachten, dann sind dreißig Prozent der Wahrheit nahe. Aber das hier ist kein Spiel. Ananais’ Stärke ist gewaltig, und seine Fähigkeiten sind noch größer. Darüber hinaus besitzt er eine persönliche Macht über die Menschen, die euren eigenen geistigen Gaben nahekommt. Wo er steht, werden auch andere stehen bleiben. Er hält sie mit der Kraft seines Willens bei der Stange. Das macht ihn zum geborenen Führer. Jede Erfolgseinschätzung in einem derartigen Plan hängt vom Willen der Menschen ab, standhaft zu bleiben und zu sterben. Sie werden vielleicht geschlagen und gemordet, aber sie werden nicht davonlaufen.
Hinzu kommt noch die Schnelligkeit, mit der Tenaka Khan zu denken vermag. Wie Ananais besitzt auch er große Fähigkeiten, und er versteht unvergleichlich viel von Strategie. Und sein Zeitgefühl ist einzigartig. Er besitzt zwar nicht Ananais’ Führerqualitäten, aber das liegt nur an seinem gemischten Blut. Drenai werden es sich zweimal überlegen, ehe sie einem Nadir folgen.
Und schließlich ist da noch die Frau, Rayvan. Ihre Männer werden umso verbissener kämpfen, weil sie bei ihnen ist. Überdenk deine Einschätzung noch einmal, Balan.«
»Ich werde noch einmal nachdenken und deine Ausführungen berücksichtigen«, sagte der Priester.
Decado nickte und wandte sich an Ananais. »Wie weit sind die Templer noch entfernt?«
»Sie werden zur morgigen Schlacht noch nicht da sein, der Quelle sei Dank! Hundert von ihnen sind zwei Tagesritte von hier. Die anderen halten sich in Drenan auf, während sich ihre Führer, die Sechs, mit Ceska treffen.«
»Dann ist das ein Problem für einen anderen Tag«, sagte Decado. »Ich werde mich jetzt schlafen legen.«
Zum erstenmal ergriff der dunkeläugige Katan das Wort. »Willst du uns nicht vorbeten, Decado?«
Decado lächelte sanft. In den Worten des jungen Priesters lag keine Spur eines Vorwurfs.
»Nein, Katan. Du bist der Quelle näher als ich, und du bist die Seele der Dreißig. Bete du vor.«
Katan verbeugte sich, und die Gruppe schloß in schweigender Übereinstimmung die Augen. Deca-do entspannte sich und lauschte auf das ferne Meeresrauschen. Er trieb dahin, bis die >Stimme< Ka-tans anschwoll, und schwebte darauf zu. Das Gebet war kurz und vollkommen in seiner Aufrichtigkeit, und es berührte Decado, als er hörte, daß der junge Priester ihn beim Namen nannte und den Herrn des Himmels bat, ihn zu beschützen.
Später, als Decado zu den Sternen emporsah, kam Abaddon und nahm neben ihm Platz. Der schlanke Krieger setzte sich wieder auf und streckte den Rücken.
»Freust du dich auf morgen?« fragte der Abt.
»Ich fürchte, ja.«
Der alte Mann lehnte sich an einen Baum und schloß die Augen. Er sah müde aus, aller Kraft beraubt. Die Falten in seinem Gesicht, einst so fein wie Spinnweben, wirkten jetzt wie eingemeißelt.
»Ich habe dich in Gefahr gebracht, Decado«, flüsterte er. »Ich habe dich in eine Welt gestoßen, die du sonst nie gesehen hättest. Ich habe ständig für dich gebetet. Es wäre schön zu wissen, ob ich recht hatte. Aber das wird nicht geschehen.«
»Ich kann dir nicht helfen, Abaddon.«
»Ich weiß. Jeden Tag habe ich dich in deinem Garten beobachtet und überlegt. In Wahrheit war es mehr Hoffnung als Gewißheit. Wir sind keine wahren Dreißig - das waren wir nie. Der Orden wurde zu Zeiten meines Vaters aufgelöst, aber ich spürte - in meiner Arroganz - daß die Welt uns brauchte. Also habe ich die Länder durchstreift und Kinder mit dieser besonderen Gabe gesucht. Ich tat mein Bestes, um sie zu lehren und betete, daß die Quelle mich leiten möge.«
»Vielleicht hattest du recht«, sagte Decado leise.
»Ich weiß es nicht mehr.
Weitere Kostenlose Bücher