Der Schatz von Blackhope Hall
fürchterlich dicke Person in dem auffallend schillernden rot-gelb gestreiften Kleid? Ist sie nicht grässlich angezogen? Wie kann man eine violette Bayadère dazu tragen?"
Annis begriff sofort, dass die Kritik gegen sie gerichtet war, da auch sie einen Spitzenschal in dieser Farbe umgelegt hatte.
Vor Verlegenheit wurde Lucy rot und warf Lady Wycherley einen gequälten Blick zu.
Aufmunternd lächelte Annis sie an. Es bedurfte einer größeren Gemeinheit, um sie aus der Fassung zu bringen.
"Auch Lord Ashwick und seine Angehörigen sind heute in der Vorstellung", raunte Sibella ihr zu. "Im letzten Jahr war er zwar die meiste Zeit in London, doch seine Verwandten hielten sich in Eynhallow auf und sind wiederholt in die Stadt gekommen. Das war eine für mich sehr unangenehme Situation, denn hier bleibt niemandem etwas verborgen. Mit anderen Worten, alle Leute wissen von den Auseinandersetzungen zwischen Mr. Ingram, Charles und Seiner Lordschaft. Wenn ich seiner Mutter oder seiner Schwester begegnet bin, wusste ich kaum, was ich sagen sollte", fügte sie hinzu und schaute verhalten seufzend zu Charles, der sich leise mit ihrem Mann unterhielt.
"Dein Bruder ist nun einmal Mr. Ingrams Anwalt", flüsterte Annis und tätschelte ihr tröstend die Hand.
"Ich weiß", murmelte Sibella. "Leider haben weder er noch ich von unseren Eltern etwas geerbt, so dass er gezwungen ist, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber es gefällt mir nicht, dass er diesen Beruf ausübt. Und besonders stört mich, dass ich freundlich zu den Ingrams sein muss. Oh, da sind sie! Von hier aus gerechnet, in der siebten Loge rechts. Siehst du sie?"
Annis nickte. In all den Jahren, die sie Mr. Ingram nicht mehr begegnet war, hatte er sich äußerlich nicht sehr verändert. Zum Abendfrack trug er eine auffallend bestickte Weste, die sicher viel Geld gekostet hatte, und an der rechten Hand einen protzigen Ring, beides Zeichen dafür, dass er ein gemachter Mann war. Die Wirkung, die er erzeugen wollte, wurde indes sehr durch sein wichtigtuerisches Gehabe geschmälert. Mit stolzer Miene geleitete er seine Frau, von der es hieß, sie sei seine einzige Schwäche, aus der Loge ins Foyer. Schmunzelnd dachte Annis daran, dass ältere Männer oft auf schöne junge Frauen hereinfielen, sagte sich jedoch im gleichen Moment, sie habe sich diese Neigung häufig zu Nutze gemacht, wenn sie einen ihrer Schützlinge unter die Haube zu bringen hatte.
"Wer ist die hinreißend aussehende Dame neben dem alten Herrn?" wollte Fanny wissen.
Annis meinte, in ihrer Stimme einen neidischen Unterton wahrgenommen zu haben.
"Das ist Mrs. Ingram", antwortete Sibella. "Aber Mr. Ingram ist noch nicht so alt, wie Sie zu glauben scheinen."
"Er muss sehr reich sein, wenn eine derartige Schönheit eingewilligt hat, seine Gattin zu werden", äußerte Lucy seufzend.
Im Stillen gab Annis ihr Recht. Männer und Frauen vermählten sich oft nur des Geldes oder eines Titels wegen.
"Ich lege Ihnen, Miss Fanny, Miss Lucy, nahe, mit uns ins Foyer zu gehen", schlug Sibella vor. "Zu langes Sitzen schadet nur der Figur. Bitte, begleitet uns", wandte sie sich dann an ihren Gatten und den Bruder.
Annis war für die Ablenkung dankbar. Cousine Sibella fand die beiden Mädchen zwar nicht besonders nett, hatte sich in den letzten Tagen jedoch bereit erklärt, sie zum Einkaufen mitzunehmen und mit anderen jungen Damen und deren Anstandsdamen zusammenzubringen. Geteiltes Leid war bekanntlich halbes Leid.
Plötzlich entdeckte Fanny zwei vertraute Gesichter, ergriff Lucy bei der Hand und sagte aufgeregt: "Da sind Lieutenant Greaves und Lieutenant Norwood, die wir gestern in der Wandelhalle kennen gelernt haben. Komm schnell, sonst verpassen wir sie womöglich!"
"Pardon", murmelte Lucy und spürte sich erröten, während sie aufstand und sich an Sibella Granger vorbeizwängte.
Hastig verschwand sie mit ihrer Schwester im Foyer, strebte nur einen Moment später die drei Stufen zum Parterre hinunter und winkte eifrig den beiden sich mit anderen Zuschauern unterhaltenden Offizieren zu.
"Du wirst es nie schaffen, Annis, Miss Fanny klarzumachen, wie eine wahre Dame sich zu benehmen hat", meinte Sibella kopfschüttelnd. "Das Beste ist, du bringst sie möglichst rasch unter die Haube, damit du deine Ruhe hast. Miss Lucy ist zwar kein hoffnungsloser Fall, steht jedoch ganz unter dem Einfluss ihrer Schwester. Wie kommst du bei deinen Bemühungen voran, jemanden für die beiden zu interessieren?"
"Nun, Sir
Weitere Kostenlose Bücher