Der Schatz von Blackhope Hall
ihr ja, meine Lieben! Madame und ich sahen euch durch den Garten spazieren." Schaudernd fügte sie hinzu: "Heute ist es mir da draußen viel zu grau und kalt."
"Ah!" Verschwörerisch zwinkerte die Russin den beiden Mädchen zu. "Die Jugend erwärmt einen von innen."
"So kalt ist es noch gar nicht, Mama", protestierte Belinda.
"Das weiß ich. Aber der Abschied vom Sommer fällt mir schwer …" Lady Eleanors Stimme drohte zu brechen. Hastig guckte sie auf ihre Hände hinab.
Olivia schaute besorgt zu Belinda hinüber, die ihre Mutter voller Mitleid beobachtete, und da fiel ihr ein, dass Roderick vor etwa einem Jahr gestorben war. Vielleicht an einem der ersten Herbsttage … Und nun wurde Lady St. Leger von traurigen Erinnerungen gepeinigt.
Vergeblich suchte Olivia nach einem Gesprächsthema, das die düstere Stimmung aufhellen würde. Wie bedauerlich, dass belangloses Geschwätz nicht zu ihren Talenten zählte … Glücklicherweise erschien in diesem Moment ein Lakai mit dem Teetablett, das er vor seiner Herrin auf einen niedrigen Tisch stellte.
Mit einiger Mühe brachte sie ein Lächeln zu Stande. "Ah, Chilton, wie nett … Sind das nicht wundervolle Köstlichkeiten? Richten Sie der Köchin meinen herzlichen Dank aus." Dann begann sie die Tassen zu füllen. "Auf die anderen müssen wir nicht warten. Sicher werden sie bald kommen. Zucker, Lady Olivia?"
"Ja, bitte." Olivia nahm die dampfende Tasse entgegen, nippte daran und betrachtete die verschiedenen Kuchen und Sandwiches.
Über dem Klirren der Bestecke und Teller und der Konversation nahm sie das sonderbare Geräusch nicht wahr.
Es war Belinda, die den Kopf schief legte. "Hört ihr das?"
Erstaunt zog Lady St. Leger die Brauen hoch. "Was denn, Liebes?"
Madame Valenskaya blinzelte und sah sich im Zimmer um.
Nachdem Olivia ihre Tasse abgestellt hatte, lauschte sie angespannt.
"Dieses komische leise Geräusch", antwortete Belinda. "Als würde ein Kätzchen miauen."
"Oder jemand weint." Olivia beugte sich vor. Jetzt drangen die klagenden Laute noch deutlicher heran.
"Oh Gott, jemand weint?" rief Lady St. Leger bestürzt. "Aber wer? Wo?" Die Stirn gefurcht, blickte sie zur Tür. "Vielleicht ein Dienstmädchen im Flur."
Olivia stand auf, eilte in den Korridor und spähte nach beiden Seiten. Dann kehrte sie ins Zimmer zurück. "Da ist niemand. Und im Flur ist auch nichts zu hören."
Immer lauter ertönte das Jammern. Schweigend lauschten die vier Frauen.
Schließlich meinte Lady St. Leger: "Das muss ein Kind sein. Wie eigenartig – als wäre es hier ."
Unheimlich und körperlos erfüllte das Schluchzen die Luft. Und dann flüsterte Madame Valenskaya mit Grabesstimme: "Eine verlorene Seele …"
"Ein Geist?" hauchte Lady St. Leger und erschauerte.
Ernsthaft nickte die Russin. "Die Toten trauern."
Entschlossen ignorierte Olivia die Gänsehaut auf ihren Armen. "Unsinn, da weint ein Mensch." Sie begann den Raum zu durchsuchen. Sobald sie sich von der Tischgesellschaft entfernte, verhallte das Geräusch, und wenn sie zurückkehrte, schwoll es an. Neben dem Kamin ertönte es am lautesten.
"Oh Gott", rief sie, "es kommt aus dem Schornstein!" Die Röcke gerafft, stürmte sie zur Tür hinaus.
8. Kapitel
Im Flur blieb sie stehen und schaute zur Treppe, die sich in einer eleganten Kurve nach unten wand. Dann drehte sie sich zum anderen Ende des Korridors um, wo schlichtere Stufen in den dritten Stock führten.
Belinda war ihr gefolgt, und Olivia fragte: "Was liegt über dem Wohnzimmer?"
"Die Kinderstuben."
"Und darunter?"
"Der kleine Ballsaal."
"Gehen wir nach oben." Olivia nahm an, wer immer den Spuk veranstaltete, würde eher eine unbenutzte Kinderstube benutzen als einen offiziellen Raum im ersten Stock, wo jederzeit ein Dienstbote auftauchen konnte.
Sie stieg die Treppe hinauf, und Belinda blieb ihr auf den Fersen. Im großen Schulzimmer ließ sich niemand blicken. Sie spähten in alle kleinen Schlafkammern, die daran grenzten. Schließlich kehrten sie in den mittleren Raum zurück. Im selben Moment hörten sie wieder die klagende Stimme – schwach, aber deutlich genug. Olivia trat in den Flur hinaus. Atemlos lauschte sie. Das Jammern schien vom Ende des Korridors zu kommen.
Auf leisen Sohlen schlug sie diese Richtung ein, von Belinda gefolgt. Das Weinen wurde lauter – und verstummte abrupt. Sofort begannen sie zu laufen, an mehreren Türen vorbei, den Quartieren der Dienstboten. Niemand kam tagsüber hier herauf. Hohl hallten die schnellen
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