Der Schatz von Blackhope Hall
mir Lady Pamela, Stephen sei ein schrecklicher Schürzenjäger."
"Stephen? Im Ernst?"
"Nun, sie sagte, vor ihrer Heirat sei sie in ihn verliebt gewesen und er habe ihr das Herz gebrochen."
In Belindas Augen funkelte heller Zorn. "Was für eine schamlose Lügnerin! Sie hat Stephen nie geliebt. Vermutlich liebt sie nur sich selbst. Was sie da behauptet hat, stimmt nicht."
"Wirklich nicht?" Von Olivias Seele fiel eine schwere Last.
"Genau das Gegenteil ist geschehen. Stephen liebte sie über alle Maßen. Damals war er ein junger Mann. Er hatte eben erst sein Studium beendet und lebte in London. Dort lernte er Pamela kennen. Er verliebte sich in sie und wollte sie heiraten. Dann begann die Saison, und seine Familie kam in die Stadt. Voller Stolz präsentierte er den St. Legers seine Liebste. Als sie mit Roderick bekannt gemacht wurde, beschloss sie, einen größeren Fisch zu angeln, und gab Stephen den Laufpass. Sie wollte Lady St. Leger werden, und Roderick war der Erbe. Damit brach sie Stephen das Herz. Natürlich überwarf er sich mit seinem Bruder. Da er es nicht ertrug, die beiden zusammen zu erleben, verließ er das Land."
"Oh, mein Gott, wie schrecklich!"
Jetzt sah Olivia die Geschichte, die Pamela ihr erzählt hatte, mit anderen Augen. Stephen war keineswegs der Schurke, der mit Pamelas Gefühlen gespielt und sie dann verlassen hatte. Im Grunde ihres Herzens war Olivia davon überzeugt gewesen, hatte aber nicht verstanden, warum Pamela lügen sollte. Das wusste sie jetzt. Diese Frau stellte sich lieber als Opfer dar, als ihr kaltes, habgieriges, geltungssüchtiges Wesen zu enthüllen.
Unglücklicherweise fühlte sich Olivia nicht besser, obwohl sie nun die Wahrheit kannte. Gewiss, Stephen war kein skrupelloser Frauenheld, aber er hatte Pamela leidenschaftlich geliebt. Ihretwegen war er in tiefste Verzweiflung gestürzt worden. Und trotz seiner Bitterkeit und Enttäuschung liebte er sie vielleicht noch immer. So intensive Gefühle konnten nicht vollends erkalten. Wenn Olivia auch beobachtet hatte, wie kühl und förmlich Stephen seiner Schwägerin begegnete – sie befürchtete, dahinter würde er nur verbergen, was er wirklich empfand, eine Besessenheit, die er sicher für töricht, sogar gefährlich hielt.
Was immer ihn zu Olivia hinziehen mochte, ließ sich sicher nicht mit der einstigen übergroßen Liebe zu Pamela vergleichen. Wegen solcher verführerischer Schönheiten hatten die Männer einst Duelle ausgefochten und Kriege angefangen. Mit der ganzen Glut seiner Jugend hatte er sie geliebt, und solche Emotionen vergaß man niemals. Ganz bestimmt hatte er Pamela damals mit viel größerer Hingabe geküsst als jetzt Olivia, die er vielleicht auf sinnliche Weise reizvoll fand, ihr aber gewiss nicht sein Herz schenken wollte. Zudem nahm sie an, sein Verlangen sei in erster Linie von den beiden merkwürdigen Träumen entfacht worden.
Schlimmer noch – sie glaubte, Pamela wolle Stephen zurückgewinnen. Immerhin besaß er nun das St.-Leger-Erbe, für das sie ihn vor Jahren abgewiesen hatte. Jetzt musste er ihr umso begehrenswerter erscheinen, denn er hatte in Amerika noch größeren Reichtum erworben. Sie hoffte offenbar, die Flammen einstiger Leidenschaft erneut entzünden zu können. Und um Olivia von ihm fern zu halten, hatte sie ihr jene Lügengeschichte erzählt.
Warum er die jüngste Tochter des Duke nach Blackhope eingeladen hatte, wusste Pamela nicht, musste jedoch – ebenso wie Belinda und Lady St. Leger – ein amouröses Interesse vermuten. Natürlich würde sie Olivia nicht für eine ernsthafte Gefahr halten, hatte aber beschlossen, kein Risiko einzugehen. Indem sie Stephen als gewissenlosen Verführer hinstellte, der Mädchenherzen eroberte und grausam brach, wollte sie Olivia entmutigen. Und dann hätte sie selbst freie Bahn.
Wenn Pamela ihn zurückerobern möchte – wie kann ich jemals mit ihr konkurrieren, fragte sich Olivia. Der Kampf gegen Stephens Erinnerung an seine einstige Liebe wäre schon schwierig genug. Zehn Mal mühsamer wäre es, die schöne Frau auszustechen, der er jetzt täglich begegnete.
"Bald beginnt die Teestunde", riss Belinda sie aus ihren schmerzlichen Gedanken. Olivia nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Seite an Seite wanderten sie durch den Garten zum Haus und plauderten über unverfängliche Dinge.
In einem kleinen Wohnzimmer, das im zweiten Stock lag, trafen sie Lady St. Leger und Madame Valenskaya an. Erfreut blickte die Hausherrin auf. "Ah, da seid
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