Der Scherbensammler
sicher leitete, konnte er in aller Ruhe nachdenken.
Natürlich hätten die Mädchen das Telefonkabel auch selbst aus der Wand gerissen haben können, um ihn auf eine falsche Fährte zu lenken. Aber hätten sie auch ihre Handys dafür geopfert?
Nachdem er Tilo Baumgart weggeschickt hatte, hatte Bert sich die Wohnung vorgenommen und nach weiteren Spuren gesucht. Die Handys im Abfall hatten ihn endgültig davon überzeugt, dass es einen Eindringling gegeben haben musste. Nach dem, was Jette und Merle in der Vergangenheit erlebt hatten, würden sie niemals so vollständig die Verbindung zur Umwelt kappen.
Bert war sich sicher, dass jemand die Mädchen gezwungen hatte, die Wohnung zu verlassen, und es sprach einiges dafür, dass dieser Jemand aus Minas Umgebung stammte. Das Mädchen war in beide Mordfälle verwickelt. Wenn sie nicht die Täterin war, dann gab es einen anderen Täter.
Vielleicht hatte sie ihn gesehen.
Und dann befanden sich die Mädchen in größter Gefahr.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
Bert gab Gas. Er hatte keine Sekunde zu verlieren.
Wie sehr sie Ben vermisst hatte. Es tat so gut, wieder in seiner Nähe zu sein.
Aber er traute ihr nicht.
Wie denn auch? Die andern hatten sich durchgesetzt. Sie hatten ihn verlassen. Die Mutter verlassen. Das Haus. Sogar die Gemeinschaft der Wahren Anbeter Gottes, der sie alles, wirklich alles zu verdanken hatten.
Cleo. Marius. Und die verrückte Gastgeberin, die vor lauter Angst die Flöhe husten hörte.
Kein Wunder, dass es so gekommen war.
Jetzt musste sie versuchen, die Kontrolle zu behalten. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, die andern ganz zu verdrängen. Dann wäre alles gut. Sie könnte mit Ben nach Hause zurückkehren. Und endlich den Vater betrauern.
Und sogar Max. Obwohl er ein Versager gewesen war. Hätte er seinen Job anständig gemacht, wäre dem Vater nichts passiert.
Alles wird gut, Papa. Deine Minouschka wird dafür sorgen.
Die Heimleiterin stand unter Stress. Ihre Wangen glühten, ihre Hände zupften rastlos an den Ärmeln ihres Pullis und in ihrer Stimme schwang unterdrückter Ärger mit.
»Sie hat nicht mal angerufen. Dabei sind bereits mehrere Mitarbeiter krank, und ich habe keinen Schimmer, wie ich die Arbeit mit dem kläglichen Rest der Truppe bewältigen soll.«
»Ist Jette schon häufiger nicht zum Dienst erschienen?«, fragte Bert.
»Eigentlich war sie immer sehr zuverlässig. Deshalb enttäuscht mich ihr Verhalten ja auch so. In letzter Zeit ist es tatsächlich wiederholt zu Unregelmäßigkeiten gekommen.«
Erst jetzt schien sie zu begreifen, dass ein Kriminalbeamter vor ihr stand.
»Warum fragen Sie? Ist das Mädchen in Schwierigkeiten?«
»Reine Routine.«
»Ist ihr etwas zugestoßen?«
Ihre Hartnäckigkeit entsprang einer Besorgnis, über die Bert sich freute.
»Sie scheint verschwunden zu sein und wir suchen sie. Sagen Sie, Frau Stein, mit wem hat Jette in diesem Haus Kontakt? Hat sie zu irgendwem eine engere Beziehung?«
»Da fällt mir vor allem Frau Sternberg ein. Die beiden haben sich immer gut verstanden. Sie waren … Du liebe Güte!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Ich rede ja schon so, als ob Jette …«
»Frau Sternberg.« Bert zückte sein Notizbuch. »Eine Heimbewohnerin?«
»Ja.« Sie hatte sich wieder gefasst. »Und eine besonders sympathische.«
»Ich würde Frau Sternberg gern kennenlernen.«
»Eben habe ich sie noch im Aufenthaltsraum gesehen. Aber Sie sollten keine großen Erwartungen hegen, Herr Kommissar. Frau Sternberg ist nur selten bei klarem Verstand.«
Bert folgte ihr über Treppen und Flure und hatte dabei Gelegenheit, sie ausgiebig zu betrachten.
Für eine Heimleiterin trug sie die falschen Schuhe, denn die Gummisohlen quietschten bei jedem Schritt auf dem hellen Fliesenboden. Obwohl es noch früh war, zog sie eine ordentliche Schweißfahne hinter sich her. Alles an ihr war tüchtig, barsch und rigoros, und Bert fragte sich, wie ein solcher Mensch überhaupt in einen solchen Beruf geraten war.
Als sie dann aber auf eine alte Frau zutrat, die auf einem Sofa saß und ein Fotoalbum in den Armen hielt, und als er ihren liebevollen Tonfall hörte, schämte er sich. Wann würde er endlich lernen, nicht nach dem ersten Anschein zu urteilen?
»Frau Sternberg«, sagte die Heimleiterin. »Dürfen wir Sie einen Moment stören?«
Die alte Dame sah mit einem Lächeln auf.
»Das ist Herr Melzig von der Kriminalpolizei. Er möchte Ihnen ein paar Fragen
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