Der Scherbensammler
nur noch weiter hineingerutscht.
»Hallo, Mina«, sagte er leise und setzte sich neben sie auf den Boden.
Sie reagierte nicht. Er wusste nicht, ob sie sein Erscheinen überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Gut. Würde er eine Weile neben ihr sitzen bleiben und ihre Nähe spüren. Das war ein Anfang. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen.
»Ben?«
Er hob den Kopf, überrascht und erfreut. »Ja?«
»Machst du das Licht an, Ben? Es ist so dunkel.«
Manchmal hatte sie Angst vor der Dunkelheit, manchmal vorm Licht. Bei Mina wusste man nie, woran man war. Er streckte die Hand aus und reckte sich nach dem Lichtschalter. Die trübe Funzel, die genau in der Mitte des Zimmers hing, gab allerdings nicht viel her. Der Raum war jetzt voller Schatten.
»Ich will nach Hause, Ben.«
Jetzt redete sie wieder wie ein kleines Kind. Auch das war etwas, an das er sich allmählich gewöhnt hatte. Ihre Stimme veränderte sich von einem Moment auf den andern. Er hatte sie nie darauf angesprochen. Sie hatte schon genug Angst vor sich selbst.
»Wir haben kein Zuhause mehr, Mina.«
Ihre Hand schob sich langsam in seine. Sie war kalt. Er presste sie an seine Wange, um sie zu wärmen. Abrupt zog Mina sie weg.
Ben schaute ihr ins Gesicht. Sie war rot geworden. Verlegen wich sie seinem Blick aus.
»Hab ich sowieso nicht ernst gemeint, Mann! Keine zehn Pferde bringen mich dahin zurück.«
Sie spielte ein Spiel, dessen Regeln Ben nicht kannte. Sie hatte es immer schon gespielt und Ben hatte nie nach dem Grund gefragt. Es machte einen Teil ihres Reizes für ihn aus, dass sie anders war als andere Mädchen. Dass sie ihn immer aufs Neue überraschte.
Nie war sie dieselbe wie am Tag vorher.
Ihr ruppiger Tonfall ließ darauf schließen, dass sie sich wieder gefangen hatte. Ben atmete auf. Er hatte genug um die Ohren, da konnte er gut darauf verzichten, auch noch jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen.
»Mich auch nicht«, sagte er. »Das Kapitel unseres Lebens ist abgeschlossen.«
Sie nickte. Strich sich ungelenk das Haar aus der Stirn. »Genau.« Sie schob die Lippen vor und bewegte Kopf und Oberkörper zu einer unhörbaren Musik.
Das war auch eine von Minas Seiten, das Mädchen, mit dem man jeden Unsinn machen und die Welt aus den Angeln heben konnte.
»Für immer zusammen«, sagte Ben und hielt ihr die Hand hin.
»Für immer zusammen.« Mina drückte ihre Handfläche gegen seine. »Du kennst ihn noch, unsern alten Schwur?«
»Meinst du, ich könnte ihn vergessen?«
Sie senkte den Kopf. Ben hörte, wie sie tief einatmete. Sie wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn an.
»Was willst du von mir, Ben?«
Verwirrt sah er ihr in die Augen. Ihr Spiel wurde langsam anstrengend. Das Haar war ihr wieder in die Stirn gefallen. Sie sah weich aus und sehr verletzlich.
»Dich«, sagte er. »Das weißt du doch.«
Das war kein Spiel mehr. Diese Fassungslosigkeit auf ihrem Gesicht war echt. Als hätte die schreckliche Unterhaltung in der Wohnung der Mädchen überhaupt nicht stattgefunden.
Ben starrte sie an. Ihre Augenlider flatterten, und Mina sank wieder zurück in die Haltung, in der er sie beim Betreten des Zimmers angetroffen hatte.
»Oh nein!« Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Hör auf damit! Ich will endlich wissen, woran ich bin!«
Sie fuhren über Land. Lange, dunkle, gerade Straßen. Hier und da ein Bauernhof mit gelbem Licht in den Fenstern. Jette lenkte den Wagen. Ben neben ihr hatte sich halb herumgedreht. So behielt er alles im Auge.
Mina traute sich kaum, ihn anzugucken. Etwas an ihm machte ihr Angst, und das war nicht das Messer, das er in der Hand hielt. War es schon immer so gewesen, dass sie Angst vor ihm hatte? Sie wusste es nicht.
Wenn ihre Blicke sich trafen, lächelte er. Es war ein Lächeln voller Zuversicht. Mühsam erwiderte sie es. Wieso fürchtete sie sich vor ihm?
Kleine Orte. Rote Backsteinhäuser. Kein Mensch draußen. Als hätte sich jeder in seinem Haus verkrochen.
Und dann das Meer. Das Meer!
Ben erlaubte ihnen nicht auszusteigen. Jette durfte nicht einmal anhalten. Sie durfte nur ein bisschen langsamer fahren. Mina drückte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Sie würde nicht weinen. Nicht betteln. Nein.
»Setz dich richtig hin«, sagte Ben, »damit ich dich sehen kann.«
Er wollte die Kontrolle behalten. Wie der Vater. Auch der hatte sie ständig überwacht.
Mina setzte sich gerade hin. Schaute an Ben vorbei. Die weißen Striche in der Mitte
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