Der Scherbensammler
nicht gefällt.«
Bereits nach den ersten Sätzen war Bert klar geworden, dass Merle niemals Rat oder Hilfe bei ihren Eltern suchen und ihnen niemals etwas anvertrauen würde. Und dass dieses Gespräch deshalb keine seiner Fragen beantworten würde. Er hatte sich bemüht, es möglichst rasch zu beenden, ohne unhöflich zu wirken.
Danach hatte er sich mit Isa zusammengesetzt. Sie hatten sich für die Kantine entschieden, weil Isa den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Bert trank nur einen Kaffee und sah ihr dabei zu, wie sie heißhungrig ein riesiges Stück Schokoladentorte vertilgte. Zur Kaffeezeit war die Kantine immer gut besucht. Der Mittagstisch war nicht berauschend, aber die selbst gebackenen Kuchen und Torten waren erstklassig.
»Und du willst nichts?«
»Nachher vielleicht. Im Augenblick würde Essen mich zu sehr ablenken.«
»Beneidenswert.« Isa leckte sich genüsslich braune Sahne von den Lippen. »Mir hilft es beim Denken. Nicht gerade Balsam für die Hüften und das Selbstwertgefühl.«
»Oh ja. Seit ich mit dem Rauchen aufgehört habe …«
»Du bist vollkommen in Ordnung.«
Sie schnalzte mit der Zunge, und es war für Bert nicht zu erkennen, ob das eine Äußerung der Bewunderung sein sollte oder ob es lediglich der Zahnpflege diente.
»Gleichfalls.«
Isa grinste, und Bert dachte, dass es schön wäre, mit ihr befreundet zu sein. Unter all seinen Kollegen war sie die Einzige, deren Nähe ihn nicht erdrückte. Das war nicht immer so gewesen.
»Aber wir sitzen nicht hier, um Komplimente auszutauschen.« Sie sah ihm aufmerksam ins Gesicht. »Bist du weitergekommen?«
Bert schilderte ihr kurz, was er unternommen hatte. Sie hörte zu, stellte hier und da eine Zwischenfrage, präzise und klug, und nach einer Weile gelang es Bert, die Geräusche ringsum auszublenden und ganz bei der Sache zu sein.
»Was kann einen Menschen dazu bringen, abrupt den Kontakt zu jemandem abzubrechen, den er sein Leben lang kennt?«, fragte er schließlich.
»Kommt auf das Verhältnis an. War es eng? Vertrauensvoll? Hat sich in letzter Zeit etwas verändert?«
»Ben hat Mina beschützt. Vor den Gewalttaten ihres Vaters und vor den Nachstellungen dieses Max Gaspar. Er war ihr großer Bruder. Ihr einziger Vertrauter, denn die Mutter besaß nicht die Kraft, ihrer Tochter beizustehen. Sie besaß nicht einmal die Kraft, sie bedingungslos zu lieben.«
»Und wenn er zu viel für das Mädchen getan hat?«
Isa verschränkte die Hände ineinander. Ihre kunstvoll zweifarbig lackierten Nägel waren so lang, dass Bert sich fragte, wie sie damit tippen mochte.
»Vielleicht hat er ihr die Luft abgeschnürt mit seinem Bedürfnis, sie zu beschützen. Oder er hat eine Gegenleistung erwartet, die sie ihm verweigert hat. Da gibt es tausend Möglichkeiten. Es könnte zum Beispiel auch sein, dass …«
»Moment mal. Was hast du da gesagt?«
»Dass er es mit seinem Bedürfnis, sie zu beschützen …«
»Nein. Das mit der Gegenleistung.«
»Dass er möglicherweise eine Gegenleistung erwartet hat. Die wenigsten Menschen sind die Wiedergeburt Jesu. Die meisten haben das Bedürfnis, für eine gute Tat etwas zurückzubekommen.«
»Und Ben wollte was?«
Sie hob die Schultern. »Anerkennung. Respekt. Freundschaft. Liebe.«
»Er hatte Minas Anerkennung. Er hatte ihren Respekt und ihre Freundschaft. Das Einzige, was er nicht besaß, war ihre Liebe. Bruder und Schwester. Das waren Marlene Kronmeyers Worte. Was, wenn Ben das Mädchen all die Jahre heimlich geliebt hat? Nicht als Schwester, sondern als Frau?«
»Und dann hat sie ihn verlassen.«
Bert nickte. »Und nun hat er sie sich zurückgeholt.«
»Warte! Er wusste doch nicht, wo sie sich aufhielt.«
»Er wusste von ihrer Therapie. Er könnte über Tilo Baumgart an Mina herangekommen sein.«
»Das sind Spekulationen, Bert.«
»Ich habe schon weitaus weniger in der Hand gehabt.«
Er griff nach seinem Handy und wählte Tilo Baumgarts Nummer.
»Melzig hier. Herr Baumgart, eine Frage: Wissen Sie, ob Ben und Mina miteinander Kontakt hatten, seitdem Mina von Zuhause weg ist?«
Während er zuhörte, wurden ihm die Hände feucht. Sein linkes Augenlid begann zu zucken. Er stand unter Strom.
»Und das war am Tag vor dem Verschwinden der Mädchen?«
»Ja. An dem Tag, an dem Sie Mina befragt haben. Etwa eine Stunde, bevor Sie gekommen sind.«
»Und Sie hielten es nicht für nötig, mir das zu erzählen?«
»Ich habe nicht daran gedacht.«
Es gelang Bert mit Mühe, das Gespräch
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