Der Scherbensammler
Schicksal.« Merle hörte auf, ihren Daumen zu verunstalten. Sie brachte ihn unterm Tisch in Sicherheit.
»Weißt du, was meine Großmutter in solchen Fällen sagt?«, fragte ich.
»Nein. Was?«
»Jeder hat sein Päckchen zu tragen.«
Merle ließ den Satz auf sich wirken. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und grinste. »Und bei uns ist es eben ein Paket.«
»Wir könnten«, ich zögerte ein wenig, »wir könnten die Lieferung auch ablehnen.«
»Könnten wir.«
»Tun wir aber nicht.«
»Auf keinen Fall.«
»Und das heißt konkret?«
»Vielleicht hat Mina ja Lust, mich zu begleiten. Du weißt doch - wenn Claudio seinen geballten Charme spielen lässt, wickelt er jede um den Finger. In diesem Fall hätte er sogar meine Erlaubnis dazu.«
Das war keine schlechte Idee. In Claudios Pizzaservice war immer was los. Da hatte man keine Zeit zum Grübeln. Und möglicherweise war Ablenkung genau die Hilfe, die Mina im Moment brauchte.
Ben war am Telefon. Mina hatte oft über ihn gesprochen. Er war wie ein Bruder für sie. Die einzige zuverlässige Konstante in ihrem Leben.
Tilo stellte sich vor. Dann fragte er nach Mina.
»Sie ist nicht hier.« Bens Stimme klang abwehrend.
Tilo fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. In das Privatleben seiner Patienten einzudringen, war beinahe so, als würde er sich heimlich Zugang zu ihren Tagebüchern verschaffen. Es war ein verbotener Bereich. Er hatte darin nichts zu suchen.
»Können Sie mir sagen, wann sie zurückkommt?«
»Leider nein.«
Tilo spürte die Vorsicht des jungen Mannes. Er will Mina beschützen, dachte er und freute sich darüber. Mina hatte ihre Kindheit nur mit Bens Hilfe überstanden. Ohne seine Unterstützung wäre sie wahrscheinlich schon vor Jahren zerbrochen. Er beschloss, deutlicher zu werden.
»Würden Sie ihr bitte etwas ausrichten, wenn Sie sie sehen?«
»Kommt darauf an.«
»Wenn sie mich brauchen sollte - ich bin für sie da. Sie soll mich unbedingt anrufen. Jederzeit. Sagen Sie ihr das?«
Tilos Worte hatten etwas bewirkt. Er konnte den Kampf, der am anderen Ende der Leitung stattfand, förmlich spüren. Komm, dachte er, überwinde dich. Tu’s für Mina.
»Kann ich nicht.«
»Wieso nicht?« Tilo merkte, wie sein Herz schlug. Zu schnell. Viel zu schnell.
»Ich weiß nicht, ob sie wiederkommt.«
Tilo hörte den Schmerz in der Stimme. Die beiden waren nie voneinander getrennt gewesen. Von Kindheit an.
»Ich verstehe nicht …«
»Mina war schon lange nicht mehr zu Hause.« Die Worte sprudelten jetzt hervor. Als wäre ein Damm gebrochen. »Sie ist verschwunden. Keiner weiß, wo sie sich aufhält.«
»Wie lange genau?« Tilo musste das wissen. Er musste wissen, wie groß sein Versäumnis war.
»Drei Wochen und vier Tage.«
Die Antwort kam so prompt und so präzise, dass Tilo die Luft wegblieb. Über drei Wochen. Und sie hatte ihm nichts davon gesagt. Und er hatte es nicht gemerkt. Was viel schlimmer war. Warum hatte sie sich nicht an ihn gewandt? Ihn um Hilfe gebeten? Wo hatte sie überhaupt gelebt während dieser Zeit?
»Sie sind doch ihr Therapeut. Ich hatte mir schon vorgenommen …«
»Nein. Ich hatte keine Ahnung.«
Tilo legte auf. Erst danach wurde ihm bewusst, dass er sich nicht verabschiedet hatte.
»Probleme?«
Er hatte Imke völlig vergessen. Sie saß ihm gegenüber, ein Buch in der Hand, und sah ihn abwartend an.
»Mina ist verschwunden.«
Abrupt schlug Imke das Buch zu. Tilo wusste, was in ihr vorging. Sie wurde an die beiden Male erinnert, als Freundinnen ihrer Tochter verschwunden waren. Sie hatte damals die Hölle durchlebt.
»Seit mehr als drei Wochen. Ich habe gerade mit ihrem besten - und einzigen - Freund gesprochen. Selbst er weiß nicht, wo sie steckt.«
»Und wenn ihr etwas zugestoßen ist?«
Imke war blass geworden. Er hätte ihr nichts davon erzählen sollen.
»Sie ist ja regelmäßig zur Therapie gekommen. Bis auf das eine Mal.«
»Und du hast ihr nichts angemerkt?«
Tilo schüttelte den Kopf. Er musste nachdenken. Unbedingt. Mina war nicht in der Lage, allein da draußen zu sein. Ihr konnte wer weiß was passieren. Wenn das nicht sogar bereits geschehen war. Was würde die Nachricht über den Mord an ihrem Vater in ihr auslösen?
Mina rappelte sich auf. Ihr war schrecklich kalt. In ihrem Innern stritten sich die Stimmen. Sie gaben sich keine Mühe, leise zu sein. Es war ihnen wohl gleichgültig, ob Mina sie hörte. Die Ereignisse hatten sie außer Kontrolle geraten
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