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Der Scherbensammler

Der Scherbensammler

Titel: Der Scherbensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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das Negative aus ihrem Leben auszublenden und nur das Positive wahrzunehmen.
    »Nie bist du da gewesen, wenn wir dich gebraucht haben«, murmelte Ben. Und für einen Augenblick hasste er sie.
    Mit dem Rückzug in ihre geträumte Welt hatte sie Mina und Ben der Gewalt ausgeliefert. Sie bekam nichts mit von den Schlägen, Drohungen und Demütigungen. Hielt sich im Haus oder im Garten auf und hörte die Schreie aus der Werkstatt nicht. Denn da nahm ihr Mann sich Mina am häufigsten vor. Oder Ben. Es kam ihm nicht darauf an.
    Damals hatte Marlene ihre Tochter verloren. Damals, als sie zum ersten Mal die Augen verschloss. Und dann wieder, wieder und wieder.
    Ben biss die Zähne zusammen. Die Wut, die in ihm brodelte, konnte er kaum noch kontrollieren. Zum Teufel mit Marlene! Zum Teufel mit dieser ganzen beschissenen Kindheit! Zum Teufel mit seiner Liebe, die Mina bloß zum Lachen brachte!
    Er sah sich um. Brauchte etwas, um diese wahnsinnige Wut loszuwerden. Nichts und niemand in der Nähe. Nur die lange Reihe geparkter Wagen. Er holte aus und trat gegen eine Autotür. Dann gegen einen Kotflügel. Er hob den Arm und schlug mit der Faust auf ein Wagendach.
    Und endlich löste sich der Schrei, den er so lange zurückgehalten hatte.
     
    Bert saß in seinem Büro und versuchte, in der Flut an Informationen, die ihn überschwemmt hatte, nicht zu ertrinken. Was nicht ganz einfach war. Er wusste nicht, was er tun sollte. Und wünschte sich, er brächte es fertig, ein einziges Mal eine eigene Entscheidung zu umgehen, indem er sich schlicht an die Vorschriften hielt.
    Mina Kronmeyer war verdächtig. Es war jedoch kaum möglich gewesen, etwas Konkretes von ihr zu erfahren, weil sie nicht nur unter multipler Persönlichkeitsstörung litt, sondern auch noch in einem desolaten Allgemeinzustand war.
    Fürs Erste hatte Bert das Angebot Tilo Baumgarts, als Vermittler zu fungieren, akzeptiert. Es wäre niemandem damit gedient, wenn man das Mädchen zusätzlich verunsicherte, indem man ihre Gewohnheiten veränderte.
    Bert hatte sich früher einmal mit multipler Persönlichkeitsstörung befasst, doch das war lange her. Seitdem hatte er immer wieder von einzelnen Fällen gehört oder darüber gelesen. Er wusste, dass dieses Phänomen kontrovers diskutiert wurde, und riss sich nicht darum, dazu Stellung zu beziehen. Doch jetzt ließ sich das nicht länger vermeiden.
    Am Nachmittag hatte er deshalb Isa um ein kurzes Gespräch gebeten und sie hatte sich Zeit genommen und war in sein Büro gekommen.
    »Ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet«, hatte sie zunächst abgewehrt.
    »Das ist auch nicht nötig«, hatte Bert geantwortet. »Falls sich der Tatverdacht gegen das Mädchen bestätigen sollte, werden sich ohnehin Psychologen und Juristen mit dem Problem auseinandersetzen. Ich möchte einfach wissen, wie du darüber denkst.«
    Sie hatte eine Weile überlegt und dann zögernd zu sprechen begonnen. Es gefiel Bert, dass sie ihre Worte sorgfältig abwog. Sie gehörte nicht zu denen, die leichtfertig daherplapperten, was sie wohltuend von einem Großteil der Menschheit unterschied.
    »DIS ist eine der umstrittensten Diagnosen in der Psychiatrie.«
    »DIS?«
    »Dissoziative Identitätsstörung. Sie geht mit einer Vielzahl von Begleiterscheinungen einher, die auch für andere Störungen typisch sind. Borderline zum Beispiel, Schizophrenie oder Depression. Manchmal werden die Patienten jahrelang falsch behandelt, bevor man ihnen endlich hilft.
    Auf der anderen Seite ist mit der Diagnose DIS häufig Schindluder getrieben worden. Oft ist es einfach der bequemere Weg, unklare Fälle mit dem Etikett ›Dissoziative Identitätsstörung‹ zu versehen. Schublade auf, Symptome rein, Schublade zu und fertig.«
    Isa hatte die Angewohnheit, ihre Worte mit den Händen zu untermalen. Bert hatte das auch bei Tilo Baumgart beobachtet.
    Er fragte sich, ob diese Ähnlichkeit im Verhalten der beiden zufällig war oder ob eine ausgeprägte Körpersprache zum Handwerkszeug eines Psychologen gehörte.
    »Die dissoziative Identitätsstörung gibt es schon lange. Aber erst in den Siebzigerjahren wurde sie richtig bekannt. In den Achtzigerjahren dann wurde sie dermaßen häufig diagnostiziert, dass viele von einer Modekrankheit sprachen. Dennoch blieb DIS eine Herausforderung. Mit einem spektakulären Fall konnte man sich als Psychoanalytiker praktisch über Nacht einen Namen machen.«
    »Und heute?«
    »Sind die Vorbehalte noch nicht ausgeräumt, auch meine nicht. Kannst

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