Der Schlangenmensch
Jahre im
Knast sollten reichen — für alle Zeiten. Daß man ihm nicht viel mehr
aufgebrummt hatte, lag ohnehin nur daran: Es hatte — Gott sei Dank! — an
Beweisen gemangelt. Sonst...
Er schob den Gedanken beiseite.
Er wußte, daß er im Gefängnis alt und grau hätte werden können. Aber jetzt war
er erst 40 und immer noch propper.
In der Scheibe des
Abteilfensters sah er sein Spiegelbild. In dem flachen Gesicht fielen zuerst
die vorquellenden, wasserhellen Augen auf. Sie blickten so „warmherzig“ wie
Gletschereis. Lederige Haut spannte sich über einen knochigen Schädel. Er hatte
dichtes, rotes Haar und einen rötlichen Schnurrbart. Sein Mienenspiel zeigte
fast immer einen niederträchtigen Ausdruck. Es war ein Gesicht, das man so
schnell nicht vergißt.
Die Fahrt dauerte nicht lange.
Als er die Großstadt erreichte,
stieg er aus. Mit seinem Koffer ging er den langen Bahnsteig entlang.
Lautsprecher-Durchsagen
schallten unter dem Kuppelgewölbe der riesigen Halle. Reisende kämpften um
Kofferkulis. Andere hasteten zu den Taxis. Ankommende wurden von Familie,
Freunden, Bekannten mit lautem Hallo und Umarmungen empfangen. Abreisende
schüttelten Hände zum Abschied und beeilten sich dann, die reservierten Plätze
einzunehmen.
Malowitz ging in eines der
Bahnhofsrestaurants. Er suchte sich einen Zweiertisch in der Ecke. Seinen Koffer
stellte er auf einen Stuhl. Den Mantel hängte er über den anderen.
Das Telefon war in der Nähe. Er
konnte seine Sachen beobachten, während er wählte.
„Gerlich“, meldete sich eine
nölige Stimme.
„Malowitz“, sagte er. „Hallo,
Herbert.“
„Mensch, Siggi! Bist du endlich
zurück.“
„Zurück und voller Ideen. Ich
warte im Bahnhofsrestaurant Fischerstuben auf dich. Klar?“
„Bin in ‘ner Viertelstunde da“,
sagte Herbert Gerlich.
Malowitz legte auf.
Er war schon beim dritten Bier,
als Gerlich hereinkam. Suchend sah er sich um.
Der König der Einbrecher
winkte, und Gerlich schoß mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
Sie begrüßten sich mit
Händeschütteln, Schulterklopfen und neugierigen Blicken in die unangenehmen
Gesichter.
„Wie war’s?“ fragte Gerlich.
„Die Zeit im Knast?“ Malowitz
wischte durch die Luft. „Sie liegt hinter mir. Nur das zählt. Nie wieder, sage
ich dir.“
Gerlich nickte. Er hatte noch
keine einschlägigen Erfahrungen. Das verdankte er günstigen Umständen, nicht
seiner Lauterkeit.
Als die Kellnerin kam, bestellte
er Bier. Dann strich er sich mit beiden Händen über sein flachsblondes Haar.
Er war zehn Jahre jünger als
Malowitz, nicht vorbestraft — wie gesagt — und zur Zeit als städtischer
Hilfsarbeiter beschäftigt. Obwohl er noch nie im Boxring gestanden hatte, sah
er aus wie ein Faustkämpfer nach ein paar hundert verlorenen Kämpfen. Ein
zerbeultes Gesicht mit tückischen Augen.
Er trug einen Pullover mit
V-Ausschnitt. Der Hemdkragen stand offen. Unterhalb des Kehlkopfes zog sich eine
blutrote Schramme über den Hals.
Malowitz wies mit dem Finger
darauf.
„Ist dir beim Aufbammeln der
Strick gerissen oder wollte dich jemand strangulieren (erwürgen) ?“
„So ungefähr!“ Gerlich verzog
das Gesicht. „Irgend so ein Mistkerl hat mir von hinten mein Silberkettchen
abgerissen. Das heißt, hätte das Ding gehalten, säße ich jetzt vielleicht schon
im Knast.“
„Ah, wirklich? Wie ist denn das
passiert?“
„Ich wollte ‘nem Betrunkenen
die Brieftasche abnehmen, als er gestern abend in ‘nem dunklen Park auf der
Bank saß. Aber so ein wildgewordener Affenarsch kam dazwischen. Macht nichts.
Ich konnte die Kurve kratzen.“
Malowitz runzelte die Stirn.
„Ab jetzt keine Extratour mehr. Ich habe Großes vor — und du bist beteiligt.“
Gerlich grinste. „Klar, Siggi.
Jetzt fangen fette Zeiten an. Aber leider habe ich keine heißen Tips. Wir
müssen erst noch sehen, wo was läuft.“
Malowitz schüttelte den Kopf.
„Die Tips bringe ich. Und was für welche!“
Er hob sein Glas. Sie tranken
sich zu.
Dann fuhr Malowitz fort: „Der
Kerl heißt Müller. Während der letzten vier Wochen habe ich im Knast mit ihm
die Zelle geteilt. Er ist zu sechs Jahren verknackt. Für ihn ist also
uninteressant, was demnächst hier passiert. Deshalb hat er mir die Tips
verkauft.“
„Aha. Und womit hast du
gezahlt?“
„Noch gar nicht. Er hat hier
‘ne Braut in der Stadt. Bei der soll ich, sobald ich flüssig bin, 5000 Deutsche
Mark abliefern. Der glaubt im Ernst, ich bin so dämlich.“
Gerlich
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