Der Schneider himmlischer Hosen
wenn sie von ihren täglichen Gängen nur ein schäbiges Spielzeug für den Kleinen Lu oder kandierte Früchte für sich selbst heimbringt. Einmal blieb sie den ganzen Tag aus und erschien erst wieder mit einer riesigen Truhe aus Kampferholz, die auf einem Wagen von zwei Männern und einem halbverhungerten Maulesel angeschleppt wurde.
«Wozu braucht sie eine Truhe von solcher Größe?» fragte ich.
Unvergleichliche Tugend erklärte würdevoll, die Truhe diene zum Aufbewahren ihrer Kleider.
«Aber sie hat doch nicht einmal Kleider genug, um einen Handkoffer zu füllen», wandte ich ein. (Das entspricht allerdings nicht ganz den Tatsachen. Die Alte Gebieterin verfügt über eine recht ansehnliche Garderobe, während die Mutter des Kleinen Lu gerade das Nötigste besitzt, um sich im Winter vor der Kälte zu schützen.)
«Nicht für die Kleider, die sie jetzt trägt», antwortete der Sohn, «sondern für jene, die sie nach ihrem Tode tragen wird.»
Das hätte ich erraten können! Sie kauft doch ständig die teuersten Kleidungsstücke: Gewänder aus Seide, bestickte Jacken und Schuhe, und mit all dem soll ihr toter Leib an jenem Tage bekleidet werden, da man sie in den riesigen Sarg legen wird, der ihre Familie vor Jahren die Einkünfte zweier Monate kostete. Der über und über in Rot und Gold lackierte Sarg befindet sich vorläufig in einem Tempel der Chinesenstadt. Einmal fragte ich Unvergleichliche Tugend, was er für die Aufbewahrung des Sarges seiner Mutter bezahle. Er antwortete mir, die Zahlung erfolge in Naturalien: soundsoviel Zucker, Tee und Mehl sei den Priestern des Tempels alljährlich zu liefern. Bestimmt ist es meine Speisekammer, aus der der verlangte Tribut stammt.
In China sind die Toten wichtiger als die Lebenden. Aber die Alte Gebieterin ist noch nicht tot, und all mein Wissen um chinesischen Brauch und Glauben kann mir nicht weismachen, daß sie ein Recht dazu hat, die teuersten Schmucksachen — Jadearmbänder, Ohrringe und Anhänger — zu kaufen, nur weil sie den Geistern im Jenseits damit Eindruck machen will.
Obgleich alle Sterblichen mehr oder weniger selbstsüchtig sind, glaubt wohl keiner so fest wie der Kleine Lu, daß sich das ganze Weltall um seine Person drehe. Zu Beginn dieser Erzählung zählte er sechs Jahre. In dem kleinen Kosmos, den meine Mauern umschließen, ist er seit je Oberster Herrscher gewesen. Die Welt draußen sieht er nicht viel anders an als die chinesischen Kaiser das Land der Äußeren Barbaren im Norden der Großen Mauer und hinter den vier Meeren. In den Wintermonaten trägt er mehrere Kleidchen übereinander, die er mit der wärmeren Jahreszeit Stück um Stück abwirft. So kommt es, daß er — in viele Schichten von wattierten Kleidern gewickelt — sich von November bis Februar zu einer Kugel rundet, die von einem Knopf überragt wird: dem Köpfchen. Im Juli und August läuft er fast nackt herum, nur mit einer Hose von sonderbarem Schnitt bekleidet. Sie ist an den Schultern befestigt und bedeckt die Brust, läßt aber die Rückseite frei, fast bis zu den Knien.
Weder winters noch sommers trägt er einen Hut, außer zur Zierde bei festlichen Gelegenheiten. Daß er niemals einen Sonnenstich bekam, bleibt mir ein Rätsel. Sein Kopf ist rasiert, bis auf ein Haarkränzchen auf dem Scheitel, von dessen Ecken nach den vier Weltrichtungen kleine, mit verschiedenfarbenen Bändchen zusammengehaltene Haarsträhnen auseinandergehen. Erst mit vier Jahren bekam er allmählich einen richtigen Zopf.
Alltags tragen der Kleine Lu und seine jüngeren Geschwister Kleider aus blauem Baumwollzeug. Aber hie und da erscheinen sie in prächtigen Gewändern aus Seide und Brokat: selbst König Salomo in seiner Glorie hatte nicht ihresgleichen. Den Anlaß zu solchem Prunk bieten die Geburtstage der Großmütter, deren der Kleine Lu drei besitzt: eine Großmutter väterlicherseits, eine Großmutter mütterlicherseits und eine Nebenfrau des Großvaters väterlicherseits. Manchmal stellen die Kleider der Kinder Tiger dar. Die runden Gesichter gucken unter einer Tierfratze mit spitzen Ohren und langen weißen Zähnen hervor. Die Schuhe, die selbst auf den Sohlen bestickt sind, stellen weiße Kaninchen oder schwarze Schweinchen dar, mit Schwänzlein an den Fersen wie Sporen.
Kuniang
1
Diese Umgebung hat sich bloß wenig verändert, seit ich in den Shuang Liè Ssè gezogen bin. Nur an der Straße, die sich an der Seite der Tatarenmauer hinzieht, lag in etwa
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