Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
1
Montag, 1. September 2008
Drei Vicodin, eine halbe Flasche Pepto-Bismol, früh an einem bitterkalten Morgen. Frank Parrish steht in der schmalen Badezimmertür einer heruntergekommenen Wohnung, sein Hemd bis zur Taille aufgeknöpft, den Ohrhörer herausgezogen und mit nackten Füßen in seinen Schuhen. Er kann sich nicht erinnern, wo die Socken geblieben sind. Er weiß nur, dass sie über und über mit Kotze beschmiert waren.
In der Badewanne vor ihm befindet sich viel Blut, und in diesem Blut zwei Menschen. Thomas Franklin Scott sitzt dort mit ausgestreckten Beinen, komplett ausgeknockt dank irgendeinem harten Stoff, und seine Freundin Heather, die durchgeknallte Schlampe, lehnt mit dem Rücken an seiner Brust. Parrish hat einmal ihren Nachnamen gehört, aber im Moment kann er sich nicht an ihn erinnern. An ihrem Oberschenkel sieht er eine breite, klaffende Wunde, die von einem Rasiermesser stammt. Ihr Blut ist durchs Badezimmer gespritzt, als wäre ein Performancekünstler am Werk gewesen. Und nun hat Tommy Scott es sich in den Kopf gesetzt, hier und jetzt alles zu Ende zu bringen. Sind alle da?, fragt er. Die Zeremonie kann jeden Moment beginnen. LSD-Junkies und unverbesserliche Idioten. Genau das, was man an einem Montagmorgen um acht Uhr so braucht.
Tommy, sagt Frank Parrish, Tommy, Junge. Scheiße noch mal, das ist Schwachsinn.
Wirklich?, sagt Tommy. Schwachsinn, sagen Sie? Er stößt ein raues Lachen aus. S-C-H-W-A-C-H-S-I-N-N .
Ich weiß, wie man es schreibt, Tommy.
Alles ist Beschiss, Frank.
Wieder lacht Tommy, forciert und unnatürlich. Er hat Angst, er steht vor dem Kurzschluss.
Ich verstehe schon, was du sagen willst, Tommy, aber da liegst du falsch. Wie alt bist du eigentlich, um Himmels willen?
Als ich zuletzt gezählt hab, war ich vierundzwanzig.
Vierundzwanzig beim letzten Zählen. Wieder lacht er, und dann fängt er an zu würgen, als ob ihm etwas in die Luftröhre geraten wäre.
Vierundzwanzig? Himmel, Mann, du bist ja fast noch ein Kind, du hast Zeit, Tommy. Schau mich an. Über vierzig, und die meiste Zeit total im Arsch. Du willst doch nicht so enden wie ich.
Das bin ich schon, Frank. Ich bin schon schlecht geendet. Für Leute wie uns läuft hier nichts mehr. Stimmt’s, Heather, Schätzchen?
Aber Heather verblutet. Ihre Augen sind halb geschlossen, und ihr Kopf taumelt vor und zurück wie der einer Marionette. Naaaggghh , lallt sie, und Parrish ist klar, dass ihr vielleicht noch eine Stunde bleibt, wahrscheinlich sogar weniger. Sie sieht schrecklich aus. Bleich, dünn und schwach, fix und fertig, ihr Körper ein Wrack dank irgendwelchem Zeug, das sie genommen hat. Skag. H. Hardball. Sugarblock. Alles verschnitten mit Baby-Abführmittel, Drano, Talkumpuder. Sie macht es nicht mehr lange. Sie hat keinen Kampfgeist. Nicht mehr.
Tommy! Um Gottes willen! Wie lange kennen wir uns jetzt schon?
Sie haben mich in den Jugendarrest gesteckt.
Frank lächelt. Teufel, das stimmt, Mann. Das hatte ich schon vergessen. Scheiße, das zählt schon was, meinst du nicht? Ich hab dich in den Jugendarrest gesteckt. Bei mir hast du deine Unschuld verloren. Scheiße, Tommy. Jetzt steig aus der verdammten Wanne und mach dich ein bisschen sauber. Dann bringen wir deine Freundin in die Notaufnahme und besorgen uns ein Frühstück. Oder hast du schon gefrühstückt?
Nee.
Also holen wir was. Bacon, und vielleicht ein paar Bratkartoffeln? Wie wär’s mit Steak und Eiern? Ich zahle.
Scheiß drauf, sagt Tommy. Er hält das Rasiermesser in der Hand.
Na-na-na-naaaagggghhh, lallt Heather.
Tommy, Mann, jetzt komm schon.
Scheiß drauf, sagt Tommy.
Frank hört das Knacken des Ohrhörer am Ende des Kabels. Benutzen Sie keine negativen Sätze . Sagen Sie nicht, was er nicht haben und nicht tun darf. Sagen Sie ihm, was er tun und haben kann . Positive Beeinflussung. Geben Sie ihm das Gefühl, dass die Welt ihn will. Benutzen Sie Vornamen. Augenkontakt. Erreichen Sie ihn auf seiner Wellenlänge.
Arschlöcher. Was wissen die schon? Sollen die bloß für eine Woche hier leben und mir dann noch was von positiver Beeinflussung erzählen. Und dass die Welt so geil auf einen ist, dass sie einen Ständer bekommt.
Tommy. Jetzt mal ernsthaft. Um Heather steht es nicht so gut, Mann. Wir müssen sie in die Notaufnahme bringen. Sie müssen ihr das Bein zunähen.
Und als wollte sie Parrish antworten, dreht sich Heather zur Wand, wobei sich aus dem scharlachroten Mund der Beinwunde ein weiterer Liter Blut in die Wanne
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