Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
zufrieden.
Parrish blieb nicht länger als eine halbe Stunde zu Hause. Obwohl er nicht mehr hinaus auf die DeKalb Avenue hätte gehen sollen, konnte er es nicht lassen. Er blieb an der Ecke stehen und schaute zurück zu seiner Wohnung auf der Willoughby Street, dann nach links zu Clay’s Tavern. Er schwankte innerlich. Er schwankte immer. Dann ging er nach links. Er ging immer nach links.
Frank Parrish war ein loyaler Trinker. Er verhielt sich loyal zu Bushmills, loyal zu seiner Ecknische, loyal zu den Musikstücken, der er in der Jukebox wählte. Tom Waits’ »I Hope That I Don’t Fall In Love With You« und »Shiver Me Timbers«; Miles Davis’ »It Never Entered My Mind«, Stan Getz’ »Desafinado«, und schließlich – vorhersehbar, so vorhersehbar, dass irgendjemand es von der Bar herüberrufen würde …
Hey, Frank.
Was ist?
Nun mach schon.
Was denn?
Spiel »Misty« für mich.
Dann lächelte Frank, schlenderte zur Jukebox, warf einen Vierteldollar ein und drückte die richtigen Knöpfe, sodass Errol Garner sie schließlich alle in eine benebelte, betrunkene, nostalgische Stimmung einlullte.
Frank Parrish blieb bis elf, manchmal bis halb zwölf Uhr. Dann machte er sich auf den Heimweg.
Sein Vater hatte hier getrunken. Damals hatte es noch nicht Clay’s Tavern geheißen, sondern The Hammerhead, doch der Namenswechsel hatte nichts an der Einrichtung geändert, an der Atmosphäre, an den Erinnerungen. Sich mit Doktor Marie Griffin zu unterhalten, war ihm leichter gefallen als erwartet. Ja, vielleicht war es tatsächlich Zeit zu reden. Schließlich war das Arschloch längst tot.
Er setzte sich in seine Ecknische, bestellte einen Doppelten und holte ihn an der Theke ab. Er winkte ein »Hallo« zu ein paar Stammgästen, die den östlichen Flügel der Bar abstützten. Cops im Ruhestand. Typen, die die letzten zwei oder drei ihrer dreißig Jahre in Ruhe hinter irgendeinem Schreibtisch ausklingen ließen, die Zeit mit Erzählungen über die guten alten Zeiten herumbrachten und sich fragten, warum sie es so eilig gehabt hatten, von der Straße wegzukommen. Wer dreißig Jahre als Cop gearbeitet hatte, starb auch als Cop. Es gab keinen leichten Weg nach draußen. Schließlich ging es nicht um irgendeinen Job, sondern um eine Berufung. Im Laufe der Zeit wurde es zu einer Leidenschaft, einer Sucht, einer Krücke, einem Glauben. Und wenn nicht, dann stieg man aus. Cops führten keine guten Ehen. Sie waren lausige Väter. Sie verließen das Haus und betraten eine Welt, die sonst niemand zu sehen bekam, ganz so, als würden nur sie die dünne Fassade zwischen dem wahrnehmen, was die Leute für die Realität hielten, und der tatsächlichen Realität. Denn die Realität lag hinter der Tatortabsperrung. Die Realität fand man an der Spitze eines Stiletts, in der Mündung einer Achtunddreißiger, hinter einer abgesägten Mossberg-Pumpgun, die ihre Ladung in ein halbes Dutzend Essensgäste in einem Restaurant in der Myrtle Avenue entlud. Die Realität bestand aus Erstechen, Prügeln, Strangulieren, Ertränken, Erhängen, Selbstmord, einer Überdosis. Die Realität waren zwölfjährige Junkies und fünfzehnjährige Nutten. Sie bestand daraus, zu stehlen, zu flüchten, sich zu verstecken, sich in eine Ecke zu hocken, während die ganze Welt nach einem suchte – und dabei genau zu wissen, dass die Welt einen allzu bald fände und alles endgültig vorbei wäre.
Die Realität bestand aus Menschen wie Rebecca Lange, einem Mädchen, das roten Nagellack trug und Frank Parrish an Caitlin erinnerte. Darauf hatte es sich zugespitzt – ein totes Mädchen, das ihn an seine Tochter erinnerte, eine Tochter, mit der er sich immer noch wegen Nichtigkeiten streiten konnte.
Und dann waren da noch John Parrish, die Saints of New York und Franks eigene verdrehte Geschichte im Sog seines Vaters – eines Mannes, der der Welt ein bestimmtes Gesicht präsentiert hatte, hinter der Fassade aber ein völlig anderer Mensch war.
Nach drei doppelten Bushmills begriff Frank Parrish, dass der Weg, den er zusammen mit Marie Griffin in Angriff genommen hatte, sich als lang und steinig erweisen würde und dass er kein klares Ziel hatte.
Dann dachte er an seinen Vater und daran, was er ihm hätte sagen sollen:
Nein, ich liebe dich nicht. Ich respektiere dich nicht einmal. Ich weiß nicht, wer du bist. Ich sehe die Schleifen und Abzeichen, die Ordensbänder, die Ehrungen und Belobigungen, und ich höre zu, wie du und deine Kumpels euch im Garten
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