Das Lied der schwarzen Berge
1
Über die Felsenstraße nach Zabljak keuchte ein kleiner Wagen. Er hüpfte über die im Wege liegenden Steine und quälte sich die Steigungen der Serpentinen hinauf, tuckernd, brummend, mit knatterndem Motor. Eigentlich war es gar keine Straße, sondern nur ein um die Felsen gelegter schmaler Pfad, den die Schafherden begingen, wenn sie im mühsamen Zug von Bergweide zu Bergweide kletterten; aber der Fahrer des kleinen Wagens zwang ihn den Berg hinauf und schaute nicht zur Seite, wo der Pfad an einen Abgrund grenzte, wo der Felsen hinabfiel ins Uferlose, in ein Gewirr von urweltlich aufgetürmten und aneinandergereihten Schluchten.
Es war ein heller, sonniger Tag. Über den Felsen stand der blaue Sommerhimmel, unterbrochen von dünnen, weißen Wolken; der Gipfel des Durmitor, des über 2.534 m hohen Berges inmitten der schwarzen Berge Montenegros, glänzte mit seinem ewigen Schnee weiß und blendend in die ständig schattigen Schluchten. Auch der enge Pfad war dunkel trotz des sonnigen Tages, er war feuchtnaß, schlüpfrig, die Steine, die im Wege lagen, waren überzogen mit einer fast moosigen Schicht. Selten – nur wenn die Sonne schräg zu den Felsen stand – traf hier ein warmer Strahl das Gestein und hob es heraus aus der Dumpfheit monatelanger Schatten.
Vor einer neuen Steigung hielt Ralf Meerholdt den Wagen an und blickte auf die Karte, die er neben sich auf dem freien Sitz liegen hatte. Es war eine Autokarte des Gebietes zwischen Foca, Plevlje und Niksic, ein Stückchen Erde inmitten des alten, bekannten Europa, das auf den Karten leer und weiß gezeichnet ist und von dem man nur weiß, daß es Felsen und rauhe Täler sind, durchschnitten von Wildbächen und Bergwassern, einigen wenigen sauren Wiesen und bewohnt von einer Handvoll Bergbauern, die hier, in völliger Einsamkeit, das karge Brot dem steinigen Boden abringen und nur im Jahre einmal auf den Märkten erscheinen, um gegen Lammfelle und schöne Wollknüpfarbeiten Geräte und Gewürze zu kaufen. Hier gibt es keine Straßen, nicht einmal Wege, die einen Wanderer reizen könnten … Rauhe Pfade führen durch die Schluchten, und der Eindruck, ein Mondgebirge zu durchschreiten, wird verstärkt durch die völlige Einsamkeit, die den Suchenden umgibt.
Ralf Meerholdt legte die Autokarte resignierend zur Seite und steckte sich eine Zigarette an. Dann stieg er aus dem offenen Wagen und ging den Pfad ein Stück zu Fuß weiter, ehe er wieder umkehrte und die halbgerauchte Zigarette nervös den Hang hinabwarf. Er sah auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. Dann setzte er sich wieder hinter das Steuerrad, ließ den Motor an und versuchte, den Wagen wieder den Pfad hinaufzuzwingen. Aber so laut der Motor auch aufheulte und die Räder sich gegen den steinigen Boden stemmten – die hintere Achse des Wagens senkte sich, und mit einem lauten Knack zersprang die Verbindung der beiden Räder. Ralf Meerholdt saß einen Augenblick wie erstarrt hinter dem Steuer, dann sprang er auf und rannte um den Wagen herum. Er brauchte nicht lange, um zu sehen, daß hier, in den unwegsamen, einsamen Felsen, seine Reise zu Ende gegangen war und der Wagen auf dem schmalen Bergpfad stand wie ein Denkmal von der Unüberwindbarkeit der schwarzen Berge.
»Achsenbruch!« sagte Ralf laut und steckte die Hände in die Taschen seiner weiten Jacke. »Ein Mist! Ein regelrechter Mist! Was nun?«
Er sah den kleinen Wagen an, gab ihm einen Tritt und ging die Strecke noch einmal bergan, die er schon vorhin gegangen war. Der Pfad führte um eine Felsnase herum und endete auf einem Plateau, auf dem man hoch über einigen Schluchten stand und einen wundervollen Rundblick genoß. Aber dieser Blick verstärkte nur noch die völlige Trostlosigkeit der Gegend und die Gewißheit, im weiten Umkreis keinen Menschen zu finden.
»Ich kann hier doch nicht übernachten!« sagte Ralf zu sich selbst. »Ich muß doch weiter!« Er blickte sich um und legte dann die Hände wie einen Trichter vor den Mund.
»Hallo!« rief er laut. »Hallooo!«
Der Schall seiner Stimme flog durch die Felsen, er durchschnitt die Stille und schien sich ins Endlose fortzupflanzen. Verblüfft über diese Wirkung seiner Stimme, lauschte Ralf einen Augenblick, aber keine andere Stimme antwortete.
Er setzte sich auf einen großen Stein am Rande des Plateaus und sah wütend auf die bizarre Landschaft zu seinen Füßen.
Da ist man nun Ingenieur, dachte er. Man ist in dieses Land gekommen, um Stauwerke zu bauen, um den armen
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