Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Wahrscheinlichkeit ist außerordentlich gering. Wenn Frauen morden, dann tun sie das selten auf organisierte und vorsätzliche Art und Weise. Außerdem erschießen oder vergiften sie ihre Opfer in der Regel. Die übergroße Mehrheit von Mörderinnen, und ich rede hier von einer Größenordnung um die neunzig Prozent, werden eher spontan durch Eifersucht oder Leidenschaft zum Töten getrieben. Bei Morden mit Vorsatz und Planung – und ganz bestimmt in Fällen, die man als Serienmorde klassifizieren würde – sind eigentlich ausnahmslos Männer die Täter. Im Moment jedenfalls suchen wir nach einem Mann, und diese Suche umfasst die achtundvierzig, die hier in Ihren Büros arbeiten.«
»Sechsundvierzig«, erwiderte Lavelle ein wenig kleinlaut. »Sie glauben doch sicher nicht, dass Dienststellenleiter Foley oder ich irgendetwas mit dieser Sache zu tun haben?«
»Es tut mir leid, Mr Lavelle, aber ich fürchte, die Untersuchung wird Sie beide ebenso einschließen wie alle anderen. Wenn ich jemanden außen vor lasse, wird es nach Willkür aussehen, und das kann ich nicht gebrauchen. Natürlich folgen die Gerichte der Philosophie, dass jeder unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist. Bei einer Morduntersuchung allerdings gehen wir die Sache etwas napoleonischer an und unterstellen, dass jeder schuldig sein könnte, bis wir ihn mit guten Gründen ausschließen dürfen.«
Lavelle nickte verständnisvoll. »Und diejenigen, die nichts zu verbergen haben, werden einer Untersuchung unbesorgt entgegenblicken.«
»Das ist eine Möglichkeit. Es mag aber auch Schuldige geben, die so selbstsicher und organisiert handeln, dass sie glauben, man könne ihnen nichts nachweisen. So etwas habe ich schon oft erlebt, und eines weiß ich mit Sicherheit: Das Ergebnis einer Untersuchung lässt sich niemals vorhersehen.«
»Und was erwarten Sie jetzt von mir?«
»Sie könnten einen Punkt für uns überprüfen«, sagte Parrish. »Sie könnten in Ihrem System nach Jennifer Baumann suchen und uns verraten, ob Sie zu irgendeinem Zeitpunkt von der County Adoption Agency oder dem Jugendamt betreut wurde.«
»Natürlich, ja«, erwiderte Lavelle. »Wie buchstabiert …«
»B-A-U-M-A-N-N.«
Lavelle wandte sich seiner Tastatur zu und tippte den Namen ein. Er wartete einen Augenblick, öffnete Dateien, scrollte, öffnete weitere Dateien und drehte sich schließlich zu Parrish um. »Sie werden keine Akte finden«, erklärte er.
Parrish runzelte die Stirn.
»Die Unterlagen werden erst in einer Akte gesammelt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass ein Fall sich über einen längeren Zeitraum hinzieht. Im Dezember 2006 wurde ein Mädchen namens Jennifer Baumann von der Polizei befragt, weil es als wichtige Zeugin in einem Fall von sexuellem Missbrauch betrachtet wurde. Das Opfer dieses Missbrauchs unterstand der Aufsicht des Jugendamts, sodass ein Vertreter der Behörde bei den Befragungen anwesend war. Über Jennifer selbst wurde keine Akte angelegt, nur die Notizen zu der Befragung sowie ihr Foto wurden gespeichert. Anscheinend blieb die Untersuchung ohne konkretes Ergebnis und wurde schließlich eingestellt. Die Notizen und Fotos wurden unter ›Diverse Befragungen‹ im betreffenden Monat abgelegt.«
»Geht aus Ihren Daten hervor, wer bei den Befragungen anwesend war?«
»Ja, es war Lester Young. Er war einer unser dienstältesten Mitarbeiter.«
»War?«
»Ja, er wechselte später zur Bewährungsbehörde.«
Parrish nickte Radick zu, der bereits dabei war, sich den Namen zu notieren.
»Und jetzt?«, fragte Lavelle.
»Nichts«, erwiderte Parrish. »Sie tun nichts, Sie sagen nichts. Ich spreche morgen mit Mr Foley, und dann sehen wir weiter.«
Lavelle brachte sie durch den Eingangsbereich zur Tür und sah ihnen nach, wie sie um die Ecke des Gebäudes bogen. Sobald sie die Cadman Plaza erreicht hatten, erklärte Parrish, dass er sich mit Valderas besprechen würde, denn Rhodes und Pagliaro mussten informiert und die Suche nach Melissa Schaeffer offiziell wieder aufgenommen werden.
»Und dann dieses Baumann-Mädchen«, sagte Radick. »Im Dezember 2006 befragt und im Januar 2007 gestorben. Jetzt, wo wir die Bestätigung einer Verbindung zum Jugendamt haben, können wir einen ganz neuen Fall aufbauen. Ich werde diesen Lester Young mal überprüfen.«
»Ich kenne einen Typen vom FBI«, fügte Parrish hinzu. »Er könnte uns unterstützen und ein Profil erstellen, das uns helfen würde, einige der Angestellten von South Two als
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