Der Schritt hinueber - Roman
freundlich und heiter gewesen; aber das war doch immer nur gespielt, bewußte Täuschung und Spiel! Das hatte er ja beobachtet in der Kantine, und nachher hatte er ihr wirkliches Gesicht gesehen: Angst und Unrast. Nun erinnerte er sich an ihre Worte von vorhin, und auch an ihre früheren Worte, und er dachte: Angst, daß sie nicht fertig würde, und weil sie doch fertig werden wollte: Lüge und Betrug.
Angst! Das hieß, sie war immer etwas schuldig geblieben, sie hatte ja gewiß bezahlen wollen, aber man hatte zuviel von ihr verlangt. Wer hatte etwas von ihr verlangt? Jeder. Da war sie auch jedem etwas schuldig geblieben. Ach, hätte ihr doch jemand Glauben geschenkt! So hatte sie es doch selbst erzählt, auch Wilnow hatte ihr nicht geglaubt!
Jorhan dachte: sie hat mir nicht alles erzählt. Nun aber wußte er, warum er sie nicht weiter gefragt hatte. Sie konnte wohl kaum Ruhe finden, aber wenn er dabei blieb: nicht fragte? wenn er ihr einfach glaubte? vielleicht fand sie dann Ruhe?
Er sah ihr weißes Kleid am Boden – die mondbeleuchtete Wolke –, ihr Hemd. Warum hatte ihn der Gedanke, wie weit es drüben gekommen war, so sehr aufgebracht? Er hatte gedacht, sie kommt wieder und ist meine Frau. Zugleich hatte er gesehen, sie kam gar nicht wieder. Aus allen ihren Worten: „mein liebster Mann“ und „jetzt ist es gut“ hatte er gehört, es waren nur gespielte Worte, nur Angst. Er war nicht ihr liebster Mann, und nichts war gut für sie. Ihre Angst war, daß sie ihm alles schuldig blieb. Aber vielleicht konnte es gut werden, wenn er nun nichts verlangte von ihr, sondern nur annahm, nicht fragte, sondern nur ihr Glauben schenkte.
Ja, sagte er sich, vielleicht geht es so. Und wieder fragte er sich: Ist das dann Liebe? Wie wird man ein Paar?
Ihre Schultern zuckten im Schlaf, er zog ihr die Decke hoch bis an den Hals. Aber da schlug sie die Augen auf.
Er kam sich elend vor. Es gab die richtige Liebe irgendwo – sicherlich. Sie starrten beide zum Fenster. Er sah den Nebel, der sich draußen verdichtete; sie sah denselben weißen Schein, für sie war es von drüben der Mond, sie saß in seinem Licht an der Mauer des Bemelmanhofes und wartete auf den Kapitän, um sich mit ihm zu unterhalten; er verstand sie, er konnte ihr immer wieder alles erklären. Er wußte, wie sie Axel geliebt hatte, und wie sie zu Kolja hatte hinausgehen müssen. Ihm konnte sie erzählen, daß sie sich redlich bemüht hatte, vor ihm fürchtete sie sich nicht, sie konnte sich sogar freuen.
Er hatte sich zu ihr unter die Decke gestreckt, und seine Hand umfaßte ihre Schulter. Sie dachte: er meint es ja am besten, – er hat mich nicht gefragt! Trotzdem wandte sie sich ab von ihm, weil sie nicht ihn sehen wollte, sondern die anderen, mit denen sie gelebt hatte, und die nun Schatten waren. Ach, und das würde er nie verstehen, um wieviel lieber sie ganz bei ihnen wäre, und wie sehr es sie verlangte, sofort hinüberzugehen in die andere Welt, nochmals: hinüber, und daß nur das gut wäre für sie.
Es ist doch eine Menge Gutes da für dich, Susanna! sagte er.
O ja, etwas Gutes, antwortete sie. Dann schwieg sie.
Editorische Notiz
Der Text folgt der Suhrkamp-Ausgabe von 1956. Einige offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
Barbara Hoiß
Franz Tumler
© Foto: Sigrid John-Tumler
Zum Autor
Franz Tumler, geboren 1912 in Gries bei Bozen/Südtirol, übersiedelte 1913 mit seiner Mutter nach Linz und lebte ab 1954/55 in Berlin, wo er 1998 starb. Tumler zählt zu den prägenden Gestalten der literarischen Moderne der 1950er und 1960er Jahre. Seine Romane und Erzählungen wurden vielfach ausgezeichnet und gelten bis heute als Marksteine moderner Erzählliteratur, u.a. Der Mantel (1959), Nachprüfung eines Abschieds (1961, Haymon 2012), V olterra. Wie entsteht Prosa (1961, HAYMONtb 2011) und Aufschreibung aus Trient (1965, Haymon 2012).
Impressum
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Künstlerbund.
© 2013
HAYMO N verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
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ISBN 978-3-7099-7611-1
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