Der Schritt hinueber - Roman
geändert hatte. Sie trat erschrocken von ihrem kindergesichtigen Spasso zurück. Die anderen blieben auf ihren Plätzen, aber nun wurden sie auch gleich zu Staub.
Susanna sah den Sekundenzeiger der Weckeruhr, aber ihr fiel nichts ein, das nächste fiel ihr nicht ein. Ihre Zeit war aus. Es gab keine Rettung. Sie hatte geliebt, und wer liebt, mit dem geht es zu Grabe. Sie sah auf Jorhan und ging auf ihn zu. Er sah nicht, daß ihr Gesicht ein grauer Strumpf war, ein fremder Gegenstand, den sie ihm hinhielt. Aber er sah die Müdigkeit darin. Er dachte: nein, so kann sie doch zu mir nicht kommen. Sie dachte dasselbe: so kann ich nicht kommen. Er sagte: Es ist so spät geworden heute. Sie sagte: Ja, der liebe, lange Tag. Er sagte: Aber vorhin in der Kantine warst du doch noch ganz vergnügt. Sie sagte: Ja, es ist auch nur jetzt im Augenblick so. Sie dachte: mir ist übel, aber das geht vorüber, und es ist noch etwas zu trinken da, das wird mir gut tun!
Sie trat an den Tisch und goß sich aus der Flasche einen Schluck ins Zahnputzglas. Aber plötzlich schmeckte es ihr nicht mehr. Sie sagte: Alkohol und Wasser, euer Gemisch hier, das ist doch ein schrecklich künstliches Zeug. Jetzt merke ich es!
Jorhan ärgerte sich. Er hatte die Flasche aus Gefälligkeit erhalten. Und vorhin in der Kantine hatte Susanna getan, als wisse sie es zu schätzen. Aber jetzt schmeckte es ihr nicht. Er sagte: Warum bist du nicht zufrieden, es ist das Beste, was wir hier haben!
Sie sagte: Ich behaupte ja nicht, daß es schlecht ist. Nur – künstlich!
Er beherrschte sich und sagte: Ja, künstlich, aber es ist rein.
Sie zuckte die Achseln. Da war ihm doch die Laune verdorben. Ach, sagte er, was soll ich dir denn herstellen? Was habt denn ihr da drüben zu bieten? Wenn du so anspruchsvoll bist – ihr müßt ja ganz großartige Sachen zu bieten haben drüben!
Nun war auch sie gekränkt. Schämst du dich nicht, du redest von drüben? Du weißt genau, nichts haben wir, auch zu trinken nichts. Wir haben überhaupt rein gar nichts!
Na, aber diese Leute, dein Kapitän, da wart ihr doch beide ziemlich betrunken, hast du mir erzählt.
Sie sah ihn an, und es war etwas Starres und Sprachloses in ihrem Blick, für ihn unbehaglich, aber noch immer schämte er sich nicht.
Als er dich eingeladen hatte, sagte er.
Ja.
Und du ihm weggelaufen bist!
Ja, das war nicht so schlimm, entgegnete sie hochmütig.
Er fragte: Warum bist du überhaupt zu ihm gegangen?
Sie sagte: Nun, an einem Sonntagabend, und es hat ja geheißen: Einladung zum Essen, und wenn ich nicht komme, werde ich ausgewiesen.
Und dann hat er dich doch ausgewiesen!
Ja, weil ich ihm davongelaufen bin – immer wieder Lügen, dachte sie. Aber das habe ich dir doch alles schon erzählt.
Sie war müde und dachte: ich muß es jetzt begraben und muß so tun, als wäre ich daheim bei ihm, und bin seine Frau, und er ist mein Mann! Und auch er war des Streits müde und dachte: ich muß das Fragen begraben!
Es war zehn Minuten nach zehn. Susanna las es von dem stumpfen Winkel der grünen Striche auf der Uhr. Die kleine Sekundennadel kreiste, sie trat auf ihn zu und sagte: Ach, lieber Jorhan, – jetzt ist alles gut, weil ich bei dir bin!
Sie beugte sich ein wenig vor und rührte ihn mit ihrer Schulter und ihrer Brust an, und er spürte es, als sie in der Bewegung zurückwich, wie einen Hauch, der ihm wieder zu entgleiten drohte. Sie wußte, daß er es so spüren mußte. Und nun würde er seinen Arm um sie legen und sie festhalten. Sie blickte über seine Schulter hinweg auf die grünen Zeiger der Uhr, auf die großen, die weitergerückt waren, auf den kleinen, der rastlos in seinem Kreis lief. Sie dachte: das sehe ich, das heißt also „jetzt“. Aber für sie war alles schon geschehen.
Sie lag still neben ihm. Endlich war sie eingeschlafen. Er sah ihr dickes gelbbleiches Haar, es rührte ihn, es lag wie Gras, das vom Schnee zerdrückt ist, an ihren Schläfen. Er sah ihren Mund, der sich nun im Schlaf kindlich öffnete; aber sie atmete schwer wie jemand, der sich über seine Kraft angestrengt hat. Er dachte wie schon zuvor, daß sie zu ihm gekommen war und nun hier schlief. Aber woher gekommen? Er beugte sich über ihr verschlossenes Kindergesicht und versuchte, darin zu lesen, wie es drüben für sie gewesen wäre: er konnte sich vorstellen, daß ihr Gesicht anderswo freundlich und heiter war, so wie es die Leute in der Kantine gesehen hatten.
Und vielleicht war es auch drüben manchmal
Weitere Kostenlose Bücher