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Der Schutzengel

Der Schutzengel

Titel: Der Schutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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wäre er kein Mensch, sondern nur ein zu kurzem Leben erwachtes Stück Dunkelheit gewesen.
    Fünf Tage nach der Beerdigung – am Samstag, dem 29. Juli – war Laura zum ersten Mal seit einer Woche wieder in ihrem Zimmer über dem Lebensmittelgeschäft. Sie packte und nahm Abschied von der Umgebung, die ihr Heim gewesen war, solange sie zurückdenken konnte.
    Sie unterbrach ihre Arbeit, setzte sich auf die Kante ihres ungemachten Betts und versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie glücklich und geborgen sie noch vor wenigen Tagen in diesem Raum gewesen war. Über hundert Taschenbücher, vor allem Hunde- und Pferdegeschichten, standen in einem Eckregal. Vier Dutzend Hunde- und Katzenminiaturen – aus Glas, Messing, Zinn und Porzellan – drängten sich auf zwei Regalbrettern über dem oberen Bettende.
    Laura hatte kein Haustier, denn in Wohnungen über Lebensmittelgeschäften durften keine Tiere gehalten werden. Aber sie hoffte, eines Tages einen Hund zu bekommen, vielleicht sogar ein Pferd. Noch wichtiger war, daß sie vielleicht Tierärztin werden würde, wenn sie groß war – eine Heilerin kranker und verletzter Tiere.
    Ihr Vater hatte gesagt, sie könne alles werden: Tierärztin, Rechtsanwältin, Filmstar, einfach alles. »Wenn du Lust hast, kannst du Rentierhirtin oder eine Ballerina auf Stelzen werden. Du läßt dich von nichts abhalten.«
    Laura mußte lächeln, als sie daran dachte, wie ihr Vater die Ballerina nachgemacht hatte. Aber dabei fiel ihr auch ein, daß er sie verlassen hatte, und sie spürte, wie sich eine schreckliche Leere in ihr öffnete.
    Sie räumte den Kleiderschrank aus, legte ihre Sachen sorgsam zusammen und packte sie in zwei große Koffer. Sie hatte auch einen Überseekoffer, in den sie ihre Lieblingsbücher, ein paar Spiele und einen Teddybären legte. Cora und Tom Lance machten eine Inventarliste der übrigen Räume der kleinen Wohnung und des Lebensmittelgeschäfts im Erdgeschoß. Laura sollte zu ihnen ziehen, wobei ihr noch nicht recht klarwar, ob dies eine Dauerlösung oder lediglich eine Übergangslösung sein würde.
    Durch Gedanken an ihre ungewisse Zukunft nervös und unruhig gemacht, wandte Laura sich wieder dem Packen zu. Sie zog die Schublade des zweiten Nachttischs auf und erstarrte beim Anblick der winzigen Stiefel, des kleinen Regenschirms und des zehn Zentimeter langen Schals, die ihr Vater als Beweis dafür besorgt hatte, daß Sir Keith Kröterich tatsächlich in Untermiete bei ihnen wohnte.
    Er hatte einen seiner Freunde, einen geschickten Schuhmacher, dazu überredet, diese winzigen Stiefel anzufertigen, die vorn besonders breit waren, damit Zehen mit Schwimmhäuten darin Platz hätten. Der Schirm stammte aus einem Laden, und den grünkarierten Wollschal hatte er selbst genäht und mühsam mit Fransen versehen. Als Laura an ihrem neunten Geburtstag von der Schule heimgekommen war, hatten Schirm und Stiefel in der Diele gestanden und der kleine Schal am Kleiderhaken darüber gehangen. »Pssst!« hatte ihr Vater theatralisch geflüstert. »Sir Keith ist eben von einer anstrengenden Reise zurückgekommen, die er im Auftrag der Königin von Ecuador gemacht hat – sie besitzt dort eine Diamantenfarm, weißt du –, und ist ganz erschöpft. Er schläft bestimmt tagelang . Aber er hat mich gebeten, dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen, und hat ein Geschenk mitgebracht, das im Hof steht.« Das Geschenk war ein neues Fahrrad gewesen.
    Als Laura jetzt diese winzigen Gegenstände in der Nachttischschublade anstarrte, wurde ihr klar, daß nicht nur ihr Vater gestorben war. Mit ihm waren Sir Keith Kröterich und die vielen anderen von ihm erfundenen Gestalten und die kindischen, aber wundervollen Geschichten fort, mit denen er sie unterhalten hatte. Die breiten Stiefel, der winzige Regenschirm und der kleine Schal sahen so süß und mitleiderregend aus, daß man beinahe glauben konnte, Sir Keith habe tatsächlich existiert und sei jetzt in eine bessere Krötenwelt heimgekehrt. Ein leises, schmerzliches Stöhnen entrang sich Laura. Sie ließ sich aufs Bett fallen, vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen, damit niemand sie schluchzen hörte, und ließ sich erstmals seit dem Tod ihres Vaters von ihrem Schmerz überwältigen.
    Sie wollte nicht ohne ihn leben – und mußte nicht nur leben, sondern auch gedeihen, weil jeder Tag ihres Lebens Zeugnis für ihn ablegen sollte. Obwohl Laura erst zwölf war, begriff sie bereits, daß ihr Vater in gewisser Weise durch sie weiter

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