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Der Schutzengel

Der Schutzengel

Titel: Der Schutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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ihnen nichts übel. An jenem Augusttag, an dem sie ihr Haus in Begleitung einer Mitarbeiterin der Orange County Child Welfare Agency verließ, küßte sie Cora und Tom zum Abschied und versicherte ihnen, sie werde schon zurechtkommen. Noch vom Auto der Sozialarbeiterin aus winkte sie den beiden fröhlich zu und hoffte, sie würden sich als Absolvierte fühlen.
    Absolviert. Dieses Wort kannte sie erst seit kurzer Zeit. Absolvieren: die Absolution erteilen; von einer Aufgabe, Verpflichtung oder Verantwortung entbinden oder befreien. Sie wünschte sich, sie könnte sich selbst Absolution von der Verpflichtung erteilen, sich ohne Anleitung durch einen liebevollen Vater in der Welt zurechtzufinden, weiterzuleben und die Erinnerung an ihn wachzuhalten.
    Vom Haus des Ehepaars Lance wurde Laura ins Kinderheim McIllroy Home gebracht: ein altes, weitläufiges viktorianisches Herrenhaus mit 27 Zimmern, das sich ein Magnat in der Zeit der landwirtschaftlichen Hochblüte des Orange County hatte erbauen lassen. Später war es in ein Heim umgewandelt worden, das zur vorläufigen Unterbringung von der staatlichen Fürsorge anvertrauten Kindern diente, für die neue Pflegeeltern gefunden werden mußten.
    Diese Einrichtung war mit nichts zu vergleichen, was Laura aus Büchern kannte. Vor allem fehlten hier freundliche Nonnen in wallenden schwarzen Gewändern.
    Dafür gab es hier Willy Sheener.
    Laura wurde gleich nach ihrer Ankunft auf ihn aufmerksam, als Mrs. Bowmaine, eine Sozialarbeiterin, sie in das Zimmer führte, das sie sich mit den Ackerson-Zwillingen und einem Mädchen namens Tammy teilen würde. Sheener war damit beschäftigt, einen der gefliesten Korridore zu kehren.
    Er war kräftig, drahtig, blaß, sommersprossig und Anfang 30; er hatte grüne Augen und Haare, die kupferrot waren wie ein neuer Penny. Bei der Arbeit grinste er und pfiff halblaut vor sich hin. »Wie geht’s Ihnen heute morgen, Mrs. Bowmaine?«
    »Wie immer bestens, Willy.« Sie hatte offenbar viel für Sheener übrig. »Das hier ist Laura Shane, eine Neue. Laura, das ist Mr. Sheener.«
    Sheener starrte Laura an, und die Intensität seines Blickes war Laura unheimlich. Als er seine Stimme wiederfand, klang sie gepreßt.
    »Ähhh … willkommen im McIllroy.«
    Während Laura der Sozialarbeiterin folgte, sah sie sich nach Sheener um. Mit einer Bewegung, die nur sie sehen sollte, ließ er die rechte Hand sinken und massierte sich träge zwischen den Beinen.
    Laura wandte sich erschrocken ab.
    Als sie später ihre wenigen Habseligkeiten auspackte und ihr Viertel des Schlafzimmers im zweiten Stock etwas wohnlicher zu machen versuchte, drehte sie sich um und sah Sheener an der Tür stehen. Laura war allein, die übrigen Kinder spielten auf dem Hof oder im Spielzimmer. Sein Lächeln war jetzt ganz anders als das, mit dem er sich bei Mrs. Bowmaine eingeschmeichelt hatte; kalt und raubgierig. In dem durch eines der kleinen Fenster einfallenden schrägen Licht wirkten seine Augen nicht grün, sondern silbern wie die durch Grauen Star getrübten Augen eines Blinden.
    Laura versuchte zu sprechen, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand neben ihrem Bett stand.
    Er stand mit herabhängenden Armen und zu Fäusten geballten Händen bewegungslos da.
    Das McIllroy Home besaß keine Klimaanlage. Obwohl alle Schlafzimmerfenster offenstanden, war es in dem Raum tropisch heiß. Trotzdem hatte Laura nicht geschwitzt. Doch jetzt, nachdem sie sich umgedreht und Sheener gesehen hatte, war ihr T-Shirt feucht.
    Draußen lachten und lärmten spielende Kinder. Sie waren ganz in der Nähe, aber ihr Stimmen klangen wie aus weiter Ferne.
    Das kratzende, rhythmische Geräusch von Sheeners Atemzügen schien immer lauter zu werden und die Kinderstimmen allmählich zu übertönen.
    Lange standen sie beide wortlos und ohne Bewegung da. Dann wandte Sheener sich plötzlich ab und ging.
    Laura wankte mit weichen Knien und in Schweiß gebadet zu ihrem Bett und setzte sich auf die Kante. Die durchgelegene Matratze gab nach, die Sprungfedern quietschten.
    Während ihr jagender Puls sich verlangsamte, betrachtete sie den graugestrichenen Raum und wollte verzweifeln. In den vier Ecken standen schmale Eisenbetten mit zerschlissenen Chenille-Tagesdecken und unförmigen Federkissen. Zu jedem Bett gehörte ein reichlich abgenutzter Nachttisch mit Kunstharzplatte, auf dem eine Metallampe stand. Die zerkratzte Kommode hatte acht Schubladen, von denen

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