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Der Schutzengel

Der Schutzengel

Titel: Der Schutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Blätter zu hören, aber als sie diesem deutlichen Geräusch nachging, war es plötzlich nicht mehr zu hören.
    Nach einigen Minuten hatte Laura das Wäldchen durchquert und erreichte eine Straße, die einen anderen Teil des weitläufigen Friedhofs erschloß. Am Straßenrand parkten Autos, deren Chrom im Sonnenschein glitzerte, und gut hundert Meter entfernt umstanden Trauernde ein weiteres Grab.
    Laura blieb schwer atmend am Straßenrand stehen und fragte sich, wohin der Mann in dem weißen Hemd verschwunden sein mochte – und weshalb sie ihn unbedingt ganz aus der Nähe hatte sehen wollen.
    Der pralle Sonnenschein, das Ausbleiben der kurzlebigen Brise und die wieder über dem Friedhof liegende völlige Stille bewirkten, daß Laura unbehaglich zumute wurde. Das Sonnenlicht schien durch sie hindurchzugehen, als wäre sie körperlos, sie fühlte sich seltsam leicht und zugleich etwas schwindlig – als schwebe sie im Traum eine Handbreit über dem Erdboden.
    Gleich werde ich ohnmächtig, dachte sie.
    Laura stützte sich mit einer Hand auf den vorderen Kotflügel eines geparkten Wagens und biß die Zähre zusammen, während sie sich bemühte, bei Bewußtsein zu bleiben.
    Obwohl sie erst zwölf war, dachte und handelte sie nicht oft kindlich und fühlte sich auch nie als Kind – doch jetzt, in diesem Augenblick auf dem Friedhof, kam sie sich plötzlich sehr klein, schwach und hilflos vor.
    Ein beiger Ford rollte im Schrittempo die Straße entlang und wurde noch langsamer, als er sich Laura näherte. Sein Fahrer war der Blonde mit dem weißen Hemd.
    Sobald Laura ihn sah, wußte sie, weshalb er ihr vertraut vorgekommen war. Der Raubüberfall vor vier Jahren! Ihr Schutzengel … Obwohl sie damals erst acht gewesen war, würde sie sein Gesicht nie vergessen.
    Er brachte den Ford fast zum Stehen, rollte sehr langsam an ihr vorbei und betrachtete sie dabei prüfend. Sie waren keine drei Meter voneinander entfernt.
    Durchs offene Autofenster konnte Laura jede Einzelheit seines einnehmenden Gesichts so deutlich erkennen wie an jenem schrecklichen Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Seine Augen waren so leuchtend blau und durchdringend, wie Laura sie in Erinnerung hatte. Als ihre Blicke sich trafen, durchfuhr sie ein Schauder.
    Der Mann betrachtete sie schweigend und ohne zu lächeln, als versuche er, sich Lauras Aussehen in allen Einzelheiten einzuprägen. Er starrte sie an, wie ein erschöpfter Wüstenwanderer ein großes Glas quellfrisches Wasser angestarrt haben würde. Sein Schweigen und sein beharrlicher Blick ängstigten Laura, aber sie vermittelten ihr zugleich ein unerklärliches Gefühl der Geborgenheit.
    Das Auto rollte an ihr vorbei. »Halt, warten Sie!« rief Laura.
    Sie stieß sich mit beiden Händen von dem Wagen ab, an dem sie gelehnt hatte, und rannte hinter dem beigen Ford her. Aber der Blonde gab Gas, fuhr rasch davon und ließ sie allein in der Sonne stehen, bis sie einen Augenblick später eine Männerstimme hinter sich hörte: »Laura?«
    Als sie sich umdrehte, sah sie den Mann nicht gleich. Erst als er nochmals halblaut ihren Namen rief, erblickte sie ihn nur zehn Meter von sich entfernt unter den ersten Bäumen des Wäldchens, aus dem sie gekommen war. Er trug ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose und schien irgendwie nicht in diesen Sommertag zu passen.
    Laura, die sich fragte, ob dieser Mann irgend etwas mit ihrem Schutzengel zu tun habe, trat neugierig und verwirrt auf ihn zu. Sie war bis auf wenige Schritte an den neuen Unbekannten herangekommen, als sie merkte, daß die Disharmonie zwischen ihm und dem hellen, warmen Sommertag nicht nur auf seine schwarze Kleidung zurückzuführen war. Winterliche Düsterkeit schien zu seinen Eigenschaften zu gehören: Er strahlte Kälte aus, als wäre er dafür geboren, in Polarregionen zu hausen.
    Sie blieb eineinhalb Meter vor ihm stehen.
    Er sagte weiter nichts, sondern starrte sie nur forschend an. Sein durchdringender Blick drückte vor allem Frage und Verwirrung aus.
    Sie sah die Narbe auf seiner linken Backe.
    »Weshalb du?« fragte der winterliche Mann, trat einen Schritt vor und wollte nach ihr greifen.
    Laura stolperte rückwärts und konnte vor Angst nicht einmal schreien.
    Aus der Mitte des Wäldchens rief Cora Lance: »Laura? Wo bist du, Laura?«
    Der Unbekannte reagierte auf die Nähe von Coras Stimme, indem er sich abwandte und zwischen den Lorbeerbäumen verschwand. Seine schwarze Gestalt verschmolz so rasch mit den Schatten, als

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