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Der Schutzengel

Der Schutzengel

Titel: Der Schutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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ich ihr das hingeknallt hätte?«
    »Sie hätte dich ein verlogenes Aas genannt«, antwortete Laura und ließ sich rücklings auf ihr wackeliges Bett fallen.
    »Zweifellos! Und dann hätte sie mich zum Mittagessen verspeist. Habt ihr gesehen, wie unförmig sie geworden ist? Sie wird jede Woche fetter. Eine Riesin dieser Art ist gefährlich: eine heißhungrige Allesfresserin, die imstande ist, das nächste Kind mit Haut und Haar so beiläufig zu verschlingen, wie sie ‘ne Familienpackung Eiscreme verdrücken würde.«
    Ruth stand am Fenster und blickte auf den Spielplatz hinab. »Wie die anderen Kinder Tammy behandeln, ist nicht fair«, meinte sie.
    »Das Leben ist nicht fair«, sagte Laura.
    »Das Leben ist aber auch keine Kinderparty«, stellte Thelma fest. »Jesus, Shane, werd bloß nicht philosophisch, wenn du nur Phrasen dreschen willst. Du weißt, daß wir hier Phrasen kaum weniger hassen, als wir’s hassen, das Radio aufzudrehen und Bobby Gentrie seine Ode to Billy Joe singen zu hören.«
    Als Tammy eine Stunde später einzog, war Laura nervös. Schließlich hatte sie Sheener umgebracht, und Tammy war von ihm abhängig gewesen. Sie rechnete damit, daß Tammy zornig und verbittert sein würde, aber die Blondine begrüßte sie nur mit einem aufrichtigen, scheuen und ergreifend traurigen Lächeln.
    Nach zwei Tagen bei ihnen stellte sich allmählich heraus, daß Tammy dem Verlust der anormalen Zuneigung des Aals mit einer Art perverser Trauer, aber auch mit gewisser Erleichterung begegnete. Ihr hitziges Temperament, das an die Oberfläche gekommen war, als sie Lauras Bücher zerfetzte, war abgekühlt. Tammy war wieder das farblose, schmächtige, unscheinbare Mädchen, das Laura an ihrem ersten Tag im McIllroy Home gar nicht wie ein wirklicher Mensch vorgekommen war, sondern wie eine geisterhafte Erscheinung, die Gefahr lief, sich in körperlosen Rauch aufzulösen und vom ersten kräftigen Windstoß vollends verweht zu werden.
    Nach dem Tod des Weißen Aals und Nina Dockweilers führte Dr. Boone, ein Psychotherapeut, der jeden Dienstag und Samstag ins McIllroy Home kam, mehrere halbstündige Therapiegespräche mit Laura. Boone konnte nicht glauben, daß sie imstande sein sollte, den Schock über Sheeners Überfall und Ninas tragischen Tod ohne psychischen Schaden zu verarbeiten. Lauras gewandte Beschreibung ihrer Empfindungen, der Erwachsenenwortschatz, mit dem sie schilderte, wie sie die Ereignisse in Newport Beach im Rückblick sah, stellten ihn vor immer neue Rätsel. Laura, die ohne Mutter aufgewachsen war, ihren Vater verloren hatte, in viele kritische, gefährliche Situationen geraten war – und vor allem von der wundervollen Liebe ihres Vaters profitiert hatte –, war elastisch wie ein Schwamm und nahm alles in sich auf, was das Leben ihr brachte. Aber obwohl sie leidenschaftslos über Sheener und mit einer Mischung aus Zuneigung und Trauer über Nina sprechen konnte, hielt der Psychotherapeut ihre Gelassenheit lediglich für einen Abwehrschild.
    »Du träumst also von Willy Sheener?« fragte er, als sie in dem kleinen Büro, das im McIllroy für ihn reserviert war, neben ihm auf dem Sofa saß.
    »Ich habe nur zweimal von ihm geträumt. Das sind natürlich Alpträume gewesen. Aber alle Kinder haben welche.«
    »Du träumst auch von Nina. Sind das ebenfalls Alpträume?«
    »O nein! Das sind schöne Träume.«
    Er schien überrascht zu sein. »Bist du traurig, wenn du an Nina denkst?«
    »Ja. Aber auch … Ich erinnere mich daran, wieviel Spaß wir beim Einkaufen, beim Anprobieren aller möglichen Sachen gehabt haben. Ich erinnere mich daran, wie sie gelächelt und gelacht hat.«
    »Fühlst du dich schuldig? Hast du Schuldgefühle wegen Ninas Tod?«
    »Nein. Nina könnte vielleicht noch leben, wenn ich nicht zu ihnen gekommen und Sheener dorthin gelockt hätte, aber ich kann mich deswegen nicht schuldig fühlen. Ich habe mich sehr bemüht, ihnen eine gute Pflegetochter zu sein, und sie sind glücklich mit mir gewesen. Aber dann hat das Leben uns eine große Sahnetorte ins Gesicht geworfen – und dafür kann ich nichts. Die Sahnetorten sieht man nie kommen; eine Komödie, in der man sie kommen sieht, taugt nichts.«
    »Sahnetorte?« fragt er verwirrt. »Du siehst das Leben als Komödie?«
    »Teilweise.«
    »Das Leben ist also nur ein Witz?«
    »Nein. Das Leben ist ernst und zugleich ein Witz.«
    »Aber wie kann das sein?«
    »Wenn Sie das nicht wissen«, antwortete sie, »sollte ich vielleicht hier die

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