Der Schutzengel
würden sie ausnützen. Gnadenlos. Aber bei mir könnt ihr ganz unbesorgt sein. Ich nütze euch niemals aus oder benehme mich so, daß es euch leid tut, mich aufgenommen zu haben.«
Die beiden starrten sie verblüfft an.
Zuletzt wandte Carl sich an seine Frau. »Nina, wir sind reingelegt worden! Das ist keine Zwölfjährige. Sie haben uns eine Zwergin untergeschoben.«
Abends im Bett wiederholte Laura vor dem Einschlafen ihre dem eigenen Schutz dienende Litanei: »Du darfst sie nicht zu sehr liebgewinnen … du darfst sie nicht zu sehr liebgewinnen …« Aber sie hatte sie bereits sehr liebgewonnen.
Die Dockweilers schickten Laura auf eine Privatschule, deren Anforderungen höher waren als in den bisher von ihr besuchten öffentlichen Schulen; sie nahm diese Herausforderung jedoch bereitwillig an und bekam gute Noten. Allmählich schloß sie auch neue Freundschaften. Ruth und Thelma fehlten ihr sehr, aber sie tröstete sich mit der Gewißheit, daß die beiden sich wohl darüber freuten, daß sie’s so gut getroffen hatte.
Sie begann sogar zu glauben, sie könne Vertrauen zur Zukunft haben und wagen, glücklich zu sein. Schließlich hatte sie einen speziellen Beschützer, nicht wahr? Vielleicht sogar einen Schutzengel. Und ein von einem Engel beschütztes Mädchen mußte doch ein Leben voller Liebe, Glück und Sicherheit zu erwarten haben …
Aber streckte ein Schutzengel einen Mann mit einem Kopfschuß nieder? Prügelte er einen anderen windelweich? Tat nichts zur Sache. Sie hatte einen gutaussehenden Beschützer, der vielleicht sogar ein Engel war, und liebevolle Pflegeeltern, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Wie hätte sie sich weigern können, glücklich zu sein, wenn sie förmlich mit Glück überschüttet wurde?
Am 5. Dezember, einem Dienstag, hatte Nina ihren monatlichen Termin bei ihrem Kardiologen, so daß niemand zu Hause war, als Laura nachmittags aus der Schule kam. Sie sperrte die Haustür auf und legte ihre Schulbücher in der Diele auf den Louis-XIV.-Tisch am Fuß der Treppe.
Das riesige Wohnzimmer war in Crème-, Pfirsich- und blassen Grüntönen gehalten, so daß es trotz seiner Abmessungen behaglich wirkte. Als Laura an einem der Fenster stand, um die Aussicht zu bewundern, überlegte sie sich, wieviel schöner es wäre, wenn Ruth und Thelma sie mit ihr genießen könnten – und plötzlich erschien es ihr nur natürlich, daß die beiden ebenfalls hier waren.
Warum eigentlich nicht? Carl und Nina liebten Kinder. Ihre Liebe hätte für ein ganzes Haus voll Kinder, für ein Dutzend Kinder ausgereicht.
»Shane«, sagte sie laut, »du bist ein Genie!«
Laura ging in die Küche und stellte einen Imbiß zusammen, den sie in ihr Zimmer mitnehmen wollte. Während sie sich ein Glas Milch eingoß, ein Schokoladehörnchen im Backofen aufwärmte und einen Apfel aus dem Kühlschrank holte, überlegte sie, wie sie das Thema Zwillinge bei den Dockweilers anschneiden sollte. Ihr Plan war so erfolgversprechend, daß sie keine Möglichkeit eines Scheiterns sah, als sie ihren Imbiß zu der Schwingtür zwischen Küche und Eßzimmer trug und sie mit einer Schulter aufstieß.
Der Aal hatte ihr im Eßzimmer aufgelauert, bekam sie zu fassen und schmetterte sie mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß ihr die Luft wegblieb. Der Apfel und das Hörnchen rutschten vom Teller, der Teller flog ihr aus der Hand, das Milchglas wurde Laura aus der anderen Hand geschlagen und zerschellte klirrend am Eßtisch. Er zog sie von der Wand weg, um sie sofort wieder dagegenzuschmettern. Ein Schmerz durchzuckte ihren Hinterkopf, ihr Blick trübte sich, sie wußte, daß sie nicht ohnmächtig werden durfte, deshalb klammerte sie sich an ihr Bewußtsein, klammerte sich hartnäckig daran, obwohl sie keine Luft bekam, starke Schmerzen und bestimmt schon eine leichte Gehirnerschütterung hatte.
Wo war ihr Beschützer? Wo nur?
Sheener brachte sein Gesicht dicht an ihres heran, und das Entsetzen schien ihre Sinne zu schärfen, denn sie nahm jede Einzelheit seiner wutverzerrten Visage wahr: die noch immer roten Stiche, mit denen sein fast abgerissenes Ohr wieder angenäht worden war, die schwarzen Mitesser in den Poren um die Nase herum, die Aknenarben in der teigigen Haut. Seine grünen Augen hatten nichts Menschliches mehr an sich: Sie waren fremdartig wie die einer blutrünstigen Raubkatze.
Ihr Beschützer würde den Aal jetzt gleich von ihr wegzerren, ihn wegzerren und unschädlich machen. Bestimmt gleich im nächsten
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