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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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abzuwarten. Etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein, also stimmte er zu und ging wieder nach vorn zum Fenster.
    Als er diesmal hinaussah, bemerkte er, dass sich die Flut zurückzog. Immer schneller strebten die Wassermassen dem Fjord zu.
    Wir haben es überstanden, dachte er.
    Er beugte sich weiter vor. Im selben Moment ging ein Ruck durch das Haus. Olsen grub seine Finger in den Rahmen. Der Boden splitterte. Er wollte zurückspringen, aber da war nichts mehr. Ein riesiges Loch klaffte im Wohnzimmerboden. Regen schlug herein. Olsen kippte nach vorn. Zuerst dachte er, es habe ihn aus dem Fenster gerissen. Dann wurde ihm klar, dass sich die komplette vordere Hauswand ablöste, als sei sie eine schlecht aufgeklebte Pappe, und sich der Flut zuneigte.
    Er schrie aus Leibeskräften.
    Die Menschen auf Hawaii, die seit Generationen mit dem Ungeheuer lebten, wussten sehr genau, was sein Rückzug bedeutete. Die abfließenden Wassermassen erzeugten einen gewaltigen Sog, der alles, was noch stand oder sich zu halten versuchte, ins Meer spülte. Alles riss das Wasser mit sich fort. Menschen, die den ersten Akt der Katastrophe überlebt hatten, starben jetzt, und ihr Sterben verlief weit grausamer als das in der heranrasenden Welle. Es ging einher mit dem aussichtslosen Überlebenskampf in der brausenden Strömung, mit dem Anschwimmen gegen den unerbittlichen Sog, mit dem Nachlassen der Kräfte. Die Muskeln erlahmten. Man wurde von herumwirbelnden Gegenständen getroffen, Knochen brachen. In verzweifelter Gegenwehr klammerte man sich irgendwo fest, wurde losgerissen und trieb weiter davon zwischen Schlamm und Trümmern.
    Das Ungeheuer aus dem Meer kam an Land, um zu fressen, und wenn es sich zurückzog, nahm es seine Beute mit.
    All dies hatte Olsen nicht gewusst, als die Hauswand in den Mahlstrom kippte, aber es wurde ihm schlagartig klar, und darum schrie er. Er schrie um sein Leben. Er wusste, dass er nun sterben würde. Während er fiel, dröhnten weitere Explosionen vom Hafen, als demolierte Schiffe und Ölanlagen in die Luft flogen. Nahezu jedes elektrische System der Stadt war ausgefallen, Kurzschlüsse folgten dicht auf dicht. Vielleicht würde er schon darum sterben, weil das Wasser unter Starkstrom stand.
    Er dachte an seine Familie. An seine Kinder. Seine Frau.
    Dann dachte er kurz an Sigur Johanson und seine merkwürdigen Theorien, und er spürte eine rasende Wut in sich aufsteigen. Johanson war schuld. Er hatte ihm etwas verschwiegen. Etwas, das sie hätte retten können. Irgendetwas hatte der verdammte Hurensohn gewusst!
    Dann dachte er nichts mehr. Nur noch: Du bist tot.
    Mit ohrenbetäubendem Prasseln landete die Hauswand in einem großen Baum, der erstaunlicherweise noch stand. Olsen wurde kopfüber aus dem Fensterrahmen geschleudert. Seine Hände griffen ins Leere, bekamen etwas zu fassen. Blätter und Rinde. Unter sich sah er die schlammige Flut dahinbrausen. Er klammerte sich an den Ast, schwang zappelnd in der Luft und begann, sich hochzuziehen. Von oben regneten Teile des Giebels herab, Planken und Verputz. Sie verfehlten ihn knapp. Das dahinschießende Wasser riss große Teile der Fassade weg. Was einmal die Vorderfront seines Hauses gewesen war, verformte sich, splitterte und brach kreischend auseinander. In panischer Angst versuchte Olsen, näher an den Stamm zu gelangen. Seitlich unter ihm entsprang ein dickerer Ast, den er erreichen konnte. Vielleicht würde er seine Füße darauf stellen können. Er spürte, wie der riesige Baum ächzte und wankte, und hangelte sich keuchend vorwärts.
    Krachend stürzten die letzten Reste der Hauswand, Laub und Äste mit sich reißend, in die Flut. Ein Ruck fuhr durch Olsens Ast. Seine Finger glitten ab. Plötzlich hing er nur noch an einer Hand. Er schaute zwischen seinen Füßen hindurch und fühlte seine Kraft erlahmen. Wenn er jetzt stürzte, wäre sein Schicksal besiegelt. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte, einen Blick auf sein Haus zu erhaschen, beziehungsweise auf das, was davon noch übrig war.
    Bitte, dachte er. Lass sie nicht tot sein.
    Das Haus stand noch.
    Und dann sah er seine Frau.
    Sie hatte sich auf Hände und Knie niedergelassen, war bis zur Kante gekrochen und sah zu ihm herüber. In ihren Zügen lag eine grimmige Entschlossenheit, als wolle sie sich im nächsten Moment ins Wasser stürzen, um ihm zur Hilfe zu kommen. Natürlich konnte sie ihm kein bisschen helfen, aber sie war da, und sie rief seinen Namen. Ihre Stimme klang fest und beinahe

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