Der Schwarm
wiesen sie nirgendwo eine einzige Schraube oder einen Nagel auf. Der komplette Schlitten wurde von Seilen und Riemen zusammengehalten, was Reparaturen erheblich vereinfachte. Auf drei Qamutiks waren hölzerne, nach oben offene Kabinen als Wetterschutz montiert, der Vierte diente als Packschlitten.
»Du bist nicht warm genug angezogen«, gab Akesuk mit Blick auf Anawaks Anorak zu verstehen.
»Wieso? Ich hab aufs Thermometer gesehen. Es sind sechs Grad über null.«
»Du vergisst den Fahrtwind. Hast du zwei Paar Socken in deinen Stiefeln? Wir sind hier nicht in Vancouver.«
Er hatte tatsächlich so vieles vergessen. Das Gefühl dafür, wie es war, in die Kälte hinauszufahren, stellte sich erst allmählich wieder ein. Es war beinahe beschämend. Natürlich waren kalte Füße das Hauptproblem, sie waren es immer gewesen. Er streifte ein zweites Paar Socken über und einen weiteren Pullover, bis er sich vorkam wie einewandelnde Tonne. Alle Teilnehmer der Reise hatten etwas von Astronauten mit ihrer Schutzkleidung und den Schneebrillen.
Akesuk ging mit den Führern ein letztes Mal die Ausrüstung durch.
»Schlafsäcke, Karibufelle...«
Seine Augen glänzten. Der dünne, graue Schnurrbart schien sich zu sträuben vor Vergnügen. Anawak sah ihm zu, wie er geschäftig von Schlitten zu Schlitten lief. Ijitsiaq Akesuk war ganz anders als sein Vater. In seiner Gesellschaft kam den Inuit und ihrer Lebensweise plötzlich wieder Bedeutung zu.
Seine Gedanken wanderten zu der Macht tief unten im Meer.
Mit dem Beginn ihrer Reise übers Eis würden sie einzig den Regeln der Natur folgen. Um hier draußen zu bestehen, brauchte man eine gewisse pantheistische Grundhaltung. Man durfte sich nicht wichtig nehmen. Man war nicht wichtig, sondern Bestandteil der beseelten Welt, die sich in Tieren, Pflanzen und im Eis manifestierte und gelegentlich auch in Menschen.
Und in den Yrr, dachte er. Wer immer sie sind, wie immer sie aussehen, wie und wo immer sie leben.
Es gab einen leichten Ruck, als das Schneemobil anfuhr, in dessen Schlitten Anawak, Akesuk und seine Frau Platz gefunden hatten, und sie glitten über das vereiste und verschneite Meer. Vereinzelt waren breite Wasserlachen zu sehen. Der Schmelzprozess hatte schon hier und da eingesetzt, aber er beschränkte sich auf die oberen Schichten. Sie umrundeten den Uferhügel von Pond Inlet und hielten weiter auf Nordosten zu, bis sie einige Kilometer Abstand zwischen sich und die Küste Baffin Islands gebracht hatten, die südlich aus der Eisfläche wuchs. Auf der gegenüberliegenden Seite reckten sich die Felsen von Bylot Island in den Himmel, umgeben von Eisbergen. Eine gewaltige Gletscherzunge erstreckte sich aus den Gipfeln hinunter zum Ufer. Anawak machte sich klar, dass sie nicht Land, sondern die gefrorene Kruste des Meeres überquerten. Unter ihnen schwammen Fische. Hin und wieder hoben die Kufen des Qamutik ab, wenn sie über Unebenheiten rumpelten und knallten hart wieder auf, aber der Schlitten federte den Aufprall ab.
Nach einer Weile änderten die beiden Inuit in dem zuvorderst fahrenden Qamutik die Fahrtrichtung, und der Tross folgte. Einen Moment war Anawak verwirrt, dann sah er, dass sie eine klaffende Eisspalte umfuhren, die zu groß war, als dass man sie mit den Schlitten hätte überqueren können. Jenseits der bläulichen Kante war schwarzes, unergründliches Meerwasser zu erkennen.
»Das kann ein bisschen dauern«, meinte Akesuk.
»Ja, es kostet Zeit«, nickte Anawak, der sich erinnerte, wie oft sie an solchen Spalten entlanggefahren waren.
Akesuk krauste die Nase.
»Nein. Warum sollte es welche kosten? Wir opfern keine Zeit. Wir behalten sie, ob wir nun direkt nach Osten fahren oder erst ein Stück weiter nördlich. Hast du alles vergessen? Hier oben ist nicht wichtig, wie schnell du ankommst. Wenn du einen Umweg fährst, findet dein Leben trotzdem statt. Keine Zeit ist verloren.«
Anawak schwieg.
»Vielleicht«, fügte sein Onkel lächelnd hinzu, »war das unser größtes Problem im vergangenen Jahrhundert, dass uns die Quallunaaq die Zeit gebracht haben. Wir mussten lernen, dass es auch vergeudete Zeit gibt. Die Quallunaaq denken, Warten sei verlorene Zeit und damit verlorene Lebenszeit. Ich schätze, als du klein warst, haben wir das alle geglaubt. Auch dein Vater hat es geglaubt, und weil er keine Möglichkeit sah, etwas Sinnvolles und Wertvolles zu tun, kam er zu der Überzeugung, sein Leben sei wertlos, weil es aus ungenutzter, vergeudeter Zeit
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