Der Schwarm
bestand. Wertlose Lebenszeit. Ein wertloses Leben.«
Anawak sah ihn an.
»Du solltest nicht ihn bedauern, sondern meine Mutter«, sagte er.
»Sie hat ihn auch bedauert«, gab Akesuk zurück und begann eine Unterhaltung mit Mary-Ann.
Tatsächlich mussten sie mehrere Kilometer fahren, bis sich die Spalte so weit verengte, dass sie auf die andere Seite wechseln konnten. Einer der Inuit-Führer koppelte sein Schneemobil ab und jagte es mit hoher Geschwindigkeit hinüber. Von dort warf er den Qamutiks nacheinander Seile zu, zog sie über die Spalte, und es ging weiter. Anawaks Onkel schob gleichmütig einen dünnen, speckigen Streifen in den Mund und hielt Anawak die Dose mit den übrigen Streifen hin.
Zögernd griff Anawak zu. Es war Narwalhaut. Wenn sie früher auf dem Eis unterwegs gewesen waren, hatten sie immer Vorräte an Narwalhaut mitgenommen. Er wusste, dass sie große Mengen Vitamin C enthielt, mehr als jede Zitrone oder Orange. Er kaute darauf herum und schmeckte das Aroma frischer Nüsse.
Der Geschmack löste eine Kettenreaktion von Bildern und Empfindungen aus. Er hörte Stimmen, aber es waren nicht die Stimmen der Expeditionsteilnehmer, sondern die anderer Menschen, mit denen er vor über zwanzig Jahren unterwegs gewesen war. Er spürte die Hand seiner Mutter, die ihm übers Haar strich.
»Meereisspalten, Presseisbarrieren ...« Der Onkel lachte. »Das ist kein Highway hier, Junge. Mal ehrlich, hast du nichts von alledem jemals vermisst?«
Falls Akesuk die sentimentale Stimmung bemerkt hatte, in die er unvermittelt geraten war, und versuchte, sie mit seiner Frage zu verstärken, bewirkte er das Gegenteil. Anawak schüttelte den Kopf. Vielleicht war es bloßer Trotz, aber er sagte nur knapp:
»Nein.«
Im selben Moment schämte er sich seiner Antwort.
Akesuk zuckte die Achseln.
Wer den größten Teil seines Lebens auf Vancouver Island verbracht hatte, noch dazu als Erforscher marinen Lebens, stand der Natur näher als jeder menschlichen Errungenschaft. Dennoch war es etwas anderes, im Clayoquot Sound Wale zu beobachten, als über die konturlose Weiße dieses Meerarms dahinzugleiten, immer weiter hinaus, braune Tundra zur Rechten und die gletscherbedeckten Gipfel von Bylot Island zur Linken. Während das Klima im Westen Kanadas für Menschen wie geschaffen schien, präsentierte sich die Arktis als spektakuläre Hölle. Wunderschön zwar, aber sich selber genug und tödlich für jeden, der sich der Illusion menschlicher Vorherrschaft ergab. Die Siedlungen wirkten wie trotzige Versuche, etwas in Besitz zu nehmen, was sich nicht besitzen ließ. Die Reise auf den Qamutiks zur Meereiskante geriet zum Trip ins Unbewusste. Anawaks letzter Rest Zeitgefühl hatte sich nach einer weiteren sonnenbeschienenen Nacht davongemacht. Sie reisten zum Urgrund der Welt. Selbst einem Rationalisten, der keinen Gott anbetete und jeder wissenschaftlichen Erklärung den Vorzug gab, kam es plötzlich einleuchtend vor, warum der Polarbär, wie die Inuit einander an langen Abenden erzählten, so melancholisch dahertrottete. Weil er in Liebe zu einer verheirateten Menschenfrau blind geworden war für die Realität. Die Frau hatte ihrem Mann, der wochenlang glücklos auf der Jagd gewesen war, aus Mitleid das Versteck ihres Liebhabers verraten, obgleich der Bär sie eindringlich gewarnt hatte, ihm von ihren geheimen Zusammenkünften zu erzählen. Doch der Bär hörte mit, während sie ihn verriet, und als der Jäger nach ihm Ausschau hielt, schlich er sich zum Iglu seiner Geliebten, um sie zu töten. Er hob die Pranke, doch dann überkam ihn Trauer. Welchen Sinn sollte es haben, ihr Leben zu zerstören? Der Verrat war begangen. Er wanderte einsam und mit schweren Schritten davon. Die Luft prickelte kalt auf Anawaks Haut.
Wo die Natur sich dem Menschen genähert hatte, war sie verraten worden. Seither, sagten die Legenden, fielen Bären Menschen an. Hier draußen war ihr Reich. Sie waren die Stärkeren. Dennoch hatte der Mensch sie besiegt und sich selber gleich mit. Auch wenn Anawak seiner Heimat zwei Jahrzehnte lang den Rücken gekehrt hatte, wusste er sehr genau, dass Industriechemikalien wie DDT oder hochgiftiges PCB aus Asien, Nordamerika und Europa mit Winden und Meeresströmungen bis ins Nordpolarmeer gelangten. Die toxische Fracht reicherte sich im Gewebe von Walen, Robben und Walrosse an, von denen sich Eisbären und Menschen ernährten, und alle wurden krank. In der Muttermilch von Inuitfrauen waren PCB-Werte gemessen
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