Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
1
Hongkong, 1880
Es war spät am Abend, als er sein Problem auf sich zukommen sah. Es schwankte von zu viel Champagner und hatte einen Mann an jedem Arm. Phin stand gegen die Wand gelehnt und widmete sich dem Glas Brandy in seiner Hand, mit dem er den sich ankündigenden Kopfschmerz bekämpfen wollte. Er beobachtete, wie die Blondine den Blick über die Menge gleiten ließ. Die Papierlaternen, die über der Tür hingen, warfen einen rötlichen Schein auf ihr weißblondes Haar. Sobald sie ihn entdeckte, lächelte sie.
Noch so etwas Unerledigtes , dachte Phin düster. Unerledigtes, über das er leicht stolpern und sich dabei das Genick brechen konnte.
Er stellte sein Glas auf das Tablett einer Angestellten, die vorbeiging. Sie war eine junge Chinesin mit einem Gesicht so rund wie der Mond. Sie balancierte das Tablett auf den Fingerspitzen und hielt es dabei über den Kopf erhoben. Fast ein wenig neidisch folgte Phins Blick dem Glas, das über den Köpfen der Menschen in Richtung Ausgang hinwegzuschweben schien. Ein wahrlich traumhafter Fluchtweg. Beim Allmächtigen, er wollte endlich weg aus Hongkong.
Jeder, der etwas auf sich hielt, war heute Abend anwesend – mit Ausnahme des Gouverneurs und des amerikanischen Konsuls. Und das konnte nur bedeuten, dass deren Verhaftung unmittelbar bevorstand. Sein Auftrag war somit erledigt. Es gab keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Doch Ridland hatte ihm untersagt, vor morgen Abend abzureisen. Der Mann war darauf aus, ihm etwas zu beweisen. Was zählt, Granville, sind die Ergebnisse. Sie sollten stolz sein auf Ihre Arbeit. Sie sind ein Naturtalent .
Stolz, sinnierte Phin und fragte sich, ob ein Hund Stolz empfand, wenn er seinem Herrn aufs Wort gehorchte. Allerdings bestand letztlich keine Notwendigkeit, sich diese Frage zu beantworten, denn ihm saß die Kette, an die man ihn gelegt hatte, mehr als eng um den Hals. Je nach Ridlands Anweisung wurde sie gelockert oder noch fester zusammengezogen, je nachdem, ob Phin bereit war, dem Mann die Hand zu lecken oder nicht. Falls tatsächlich nur die Ergebnisse zählten, hätte er schon längst von hier verschwunden sein sollen. Immerhin gab es hier noch andere Agenten, die ihn nicht kannten und die er nicht kannte, die sich mit den Folgen der Ereignisse beschäftigen konnten. Sich um die Konsequenzen zu kümmern war schließlich nicht seine Aufgabe.
Als Phin den Blick durch den Raum schweifen ließ, blieb der an Miss Masters, besagter Blondine, hängen. Sie kam direkt auf ihn zu, wobei sie sich entschlossen ihren Weg zwischen den Paaren hindurchbahnte, die sich wie Marionetten in dem Takt bewegten, den die Musiker ihnen vorgaben. Sein kurzer Flirt mit Mina Masters hatte sich als folgenschwerer Fehler erwiesen. Am Ende hatte er keinerlei Verwendung für sie gehabt. So wenige Komplikationen wie möglich – so lautete sein Grundsatz. Leider war ihm in diesem speziellen Fall klar geworden, dass ebendieser Grundsatz das eigentliche Problem war. Dem Anschein nach war Miss Masters es auch nicht gewohnt, einen Korb zu bekommen; ein Umstand, der unmissverständlich ihre Neugierde auf den Plan gerufen zu haben schien.
Phin beobachtete, wie Mina Masters auf dem Weg zu ihm ihre Begleiter verlor. Erst den einen, weil er über seine eigenen Füße stolperte, dann den anderen, der mit einem Walzer tanzenden Paar zusammenstieß. Von alledem schien Mina nichts mitzubekommen. Vermutlich erleichterte diese besondere Art der Ignoranz ihr Leben. Bis jetzt. Mit Gerard Collins als Stiefvater würde ihr zu viel Durchblick vermutlich auch nicht gut bekommen. Die Dinge, die ihr zu Ohren kommen könnten, würden ihrem Schönheitsschlaf nicht unbedingt förderlich sein.
Noch hatte das blonde Spatzenhirn keine Ahnung, dass es sich bald in einer ganz fremden Welt wiederfinden würde. Sobald Collins in Gewahrsam war, würden ihre Verehrer sie verlassen – wie die sprichwörtlichen Ratten das sinkende Schiff. Minas Mutter würde wahrscheinlich versuchen, aus dem Fenster zu springen. Die beiden Frauen würden sehr schnell lernen, wie es sich anfühlte, ein Leben voller Entbehrungen zu führen. Phin sah jedenfalls schwarz für sie. Minas Mutter hatte sich mit ihrer Familie überworfen, und keine von beiden verfügte über das Talent, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Natürlich würde ihre Schönheit ihnen von Nutzen sein, aber die würde vergehen, waren sie erst einige Male etwas rauer angepackt worden waren.
Diese Gedanken verdarben Phin
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