Der Schwarm
waren so. Es ist schön und gut, wenn sie dir ständig irgendwelche Geschichten erzählen über das stolze, unabhängige Volk der Inuit, aber ich habe davon nicht viel mitbekommen.« Er sah Akesuk an. »Wenn Vater und Mutter innerhalb weniger Jahre zu Wracks werden, drogensüchtig, ohne Lebensmut, wie sollst du das ertragen? Wenn deine Mutter sich erhängt, weil sie sich selber nicht ertragen kann. Und dein Vater hat nichts anderes zu tun, als zu wimmern und sich zu besaufen. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, dass er damit aufhören soll. Dass meine Kraft für zwei reicht. Ich habe ihn angeschrien, dass ich arbeiten werde, irgendetwas tun werde, ich wollte ihm helfen, Hauptsache, er legt die Flasche aus der Hand und bekommt wieder ein paar klare Gedanken zusammen wie früher, aber er hat mich nur angeglotzt und weitergewimmert!«
»Ich weiß.« Akesuk schüttelte den Kopf. »Er war nicht mehr Herr seiner selbst.«
»Er hat mich zur Adoption freigegeben«, sagte Anawak. Die Bitterkeit von Jahren lag ihm auf der Zunge. »Ich wollte bei ihm bleiben, und dieser Jammerlappen gibt mich frei.«
»Er ist nicht mit dir fertig geworden. Er wollte dich schützen.«
»Na und? Hat er sich darum gekümmert, wie ich damit fertig werde? Einen Scheiß hat er! Meine Mutter ist an ihren Depressionen zugrunde gegangen, mein Vater hat sich mit Alkohol abgeschossen, sie haben mich beide aus ihrem Leben geworfen. Hat mir einer geholfen? – Nein! Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, Löcher in den Schnee zu starren und die Not der Inuit zu beklagen. – Auch du, ich erinnere mich genau. Du warst der lustige Onkel Iji, du warst immer für irgendwelche Geschichten gut, aber auf die Reihe bekommen hast du auch nichts. Immer nur Legenden heraufbeschwören, das ist alles, was dir eingefallen ist. Märchenstunde vom freien Volk der Inuit. Ein edles Volk! Ein stolzes Volk! Blabla!«
»Das war es«, nickte Akesuk. »Ein stolzes Volk.«
»Wann?«
Er wartete darauf, dass Akesuk wütend werden würde, aber sein Onkel fuhr sich nur ein paar Mal über den Schnurrbart.
»Vor deiner Geburt«, sagte er. »Die Menschen meiner Generation sind noch in Iglus geboren worden, und es war selbstverständlich, dass jeder eines bauen konnte. Wenn wir Feuer gemacht haben, benutzten wir Flintsteine statt Streichhölzer. Ein Karibu wurde nicht geschossen, sondern mit Pfeil und Bogen erlegt. Vor einen Qamutik spannte man kein Skidoo, sondern Hunde. Klingt das nicht alles sehr romantisch? Nach längst vergangenen Zeiten?« Akesuk schüttelte den Kopf. »Dabei ist es gerade mal ein halbes Jahrhundert her. – Schau dich um, Junge. Wie leben wir heute? Ich meine, es hat auch sein Gutes, kaum ein Volk weiß so viel über die Welt wie wir. In jedem zweiten Haus findest du einen Computer mit Internetanschluss, auch in meinem. Wir haben einen eigenen Staat bekommen.« Er kicherte. »Neulich gab es ein Rätsel zu knacken auf nunavut.com, ganz amüsant auf den ersten Blick. Kennst du noch die alten kanadischen Zwei-Dollar-Noten? Vorne siehst du Königin Elisabeth II. abgebildet, hinten drauf eine Gruppe Inuit. Einer der Männer steht vor dem Kajak, mit der Harpune in der Hand. Sehr idyllisch. Die Frage war: Was zeigt diese Szene wirklich? -Weißt du es?«
»Ich fürchte, nein.«
»Aber ich. Sie zeigt das Bild einer Vertreibung, Junge. Die Regierung von Ottawa hatte ein feineres Wort dafür, sie nannte es Umsiedlung. Ein Motiv des Kalten Krieges. Ottawa hatte Angst, die USA oder die Sowjetunion könnten auf die Idee kommen, die unbewohnte kanadische Arktis zu beanspruchen, also siedelten sie die nomadisierenden Inuit von ihren Stammplätzen in der südlichen Polarzone um nach Resolute und Grise Fiord nahe dem Nordpol. Man hat ihnen vorgelogen, dort seien die Jagdgründe besser, aber das Gegenteil war der Fall. Die Inuit mussten in Blech gestanzte Registriernummern tragen, wie Hundemarken. Wusstest du das?«
»Ich erinnere mich nicht mehr.«
»Viele deiner Generation, viele der Kinder heute haben keine Ahnung von ihren Eltern und deren Lebensumständen. Und dass es eigentlich noch früher begonnen hat, Mitte der zwanziger Jahre, als die weißen Trapper kamen und das Gewehr mitbrachten. Karibus und Robben wurden dramatisch dezimiert. Von beiden übrigens, Quallunaat und Inuit. Gewehrkugeln statt Pfeil und Bogen, du verstehst. -Die Armut kam über die Inuit. Sie hatten nie sonderlich viel mit Krankheiten zu tun gehabt, aber jetzt traten Polio, Tuberkulose,
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