Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
Die Welt ist eine Scheibe
Klar weiß ich, dass die Welt keine Scheibe ist. Die Welt, also unsere Erde, ist eine Kugel, eine wahnsinnig träge Kugel. Sie braucht einen ganzen Tag, um sich einmal um sich selbst zu drehen. Selbst mit kaputter Bandscheibe und einem Dutzend anderer Beeinträchtigungen bin ich schneller.
Also, die Welt ist eine Kugel. Keine Scheibe.
Aber es gibt nicht nur diese eine Welt. Es gibt auch meine Welt, die John-Doyle-Welt. Und die ist eine Scheibe, eine platte Scheibe. Eine Bandscheibe eben. Dabei wusste ich vor drei Jahren noch nicht einmal, dass ich so etwas besitze, geschweige denn, dass sie Schmerzen verursachen darf. Heute ist meine Bandscheibe und alles, was sich sonst in meinem Körper an Beschwerden versteckt – und bei mir ist verdammt viel Platz, um etwas zu verstecken –, meine Welt geworden.
Meine Bandscheibe und ihre knochigen, nervigen und muskulären Freunde haben mich zum professionellen Patienten gemacht. Inzwischen weiß ich, dass es nicht nur Allgemeinmediziner und Zahnärzte gibt, nein, es gibt unfassbar viele verschiedene Ärzte – für jede Körperregion einen. So wie es nicht nur den 911 er und den Carrera gibt, nein, Porsche stellt Dutzende verschiedene Modelle her, bis hin zum Viertürer für meinen Orthopäden. Abgesehen von meinem ganz jungen Knochendoktor. Der fährt Boxter, aber er steht ja auch erst am Anfang seiner Karriere.
Aber das ist nur ein Aspekt der neuen John-Doyle-Welt. Seit ich in so engem Kontakt mit meiner Bandscheibe stehe, hat sich mein Leben in jeder Hinsicht verändert. Zum Beispiel habe ich jetzt viel mehr deutsche Freunde. In der Vor-Bandscheiben-Zeit wurde ich immer nur als Ami wahrgenommen:
»Also, John, durch das G 8 er-Abitur ist meine Tochter nur noch gestresst. Was sagst du als Amerikaner dazu?«
»Die Griechen machen den Euro kaputt. Was sagst du als Amerikaner dazu?«
»John, der Liter Sprit wird von Tag zu Tag teurer. Was sagst du als Amerikaner dazu?«
Ja, was sage
ich
dazu? Ich weiß genau, was ich als John ohne nationalen Bezug dazu sagen würde:
»Scheiße!«
»Scheiße!«
»Scheiße!«
Aber von mir – als Amerikaner – erwartet man andere Antworten. Man erwartet eine amerikanische Sicht auf die Dinge. Sozusagen die Welt aus der Sicht eines waffentragenden und burgermampfenden Geographie-Legasthenikers:
»Hä? Schule?«
»Einmarschieren!«
»Wir haben keine Liter, wir haben Gallonen!«
Jetzt aber, mit Bandscheiben- und verwandten Schmerzen, habe ich ein Thema, bei dem ich endlich mitreden kann. Denn Schmerzen sind etwas Globales; da fallen alle nationalen Schranken. Gegen die Bandscheibe hilft kein Einmarschieren, kein Handelsembargo und auch keine Predator-Drohne; der Bandscheibe ist es nämlich egal, ob sie über einem deutschen, amerikanischen oder kanadischen Arsch sitzt (Obwohl? Beim kanadischen bin ich mir nicht so sicher …). Wie gesagt, jetzt red ich mit.
»Hi, John, wie geht’s dir?«
»Nicht so gut, meine Bandscheibe … und der Schmerz strahlt voll in den Nacken!«
»Wem sagst du das? Heute Morgen bin ich kaum aus dem Bett gekommen … Kennst du das? Das Gefühl, als ob dir einer mit einer Nadel voll in den zweiten Lendenwirbel sticht?«
»Aua, ja, das kenn ich, das kenn ich gut! Gestern ist mir der zweite Wirbel glatt rausgesprungen. Musste sofort zum Chiropraktiker.«
»Oh! Echt? Zu welchem kriechst du denn?«
»Gestern war ich in einer Praxis am Rhein. Heute weiß ich noch nicht. Mal schauen, was weh tut.«
Ja, ich bin perfekt im Schmerzenhaben. Deshalb suchen meine neuen deutschen Freunde stets meine Nähe. Ich kenne jeden Schmerz. Ich will hier ja nicht angeben, aber tatsächlich bin ich der König der Schmerzen, der Meister aller altersbedingten Verfallserscheinungen! Ich bin John Doyle,
der PATIENT unter den Patienten!
Selbst meine Bandscheibe redet mit mir.
»Hallo, John, schon wach? Wie wäre es mit einem kleinen Spielchen? Du versuchst aufzustehen, und ich hau dir voll eine rein!«
Das tut sie dann auch, die Bandscheibe. Und meine Frau sagt: »Steh endlich auf, John, stell dich nicht so an!«
Und ich sage: »Ich kann nicht, es tut so höllisch weh!«
Und die Arzthelferin am Telefon sagt: »Wenn es sehr weh tut, dann kommen Sie in
drei
Wochen vorbei.«
Und mein Sohn sagt: »Ich krieg noch Taschengeld!«
Und dann gehe ich zum Arzt. Aber weil der Orthopäde keine Zeit hat, gehe ich zum Urologen. Oder zum Proktologen. Oder zum Gefäßchirurgen. Egal, helfen tut eh nichts. Am Ende
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