Der Schwarm
endlich in ihre Schlafsäcke gefunden hatten, lag Anawak noch eine Weile wach. Die nächtliche Sonne erhellte die Zeltwand. Einmal hörte er den Ruf der Bärenwache: »Nanuq, Nanuq!« Er dachte an das tiefe, schwarze Nordpolarmeer unter sich, und seine Gedanken, körperlos, schienen durch die Eisdecke hinabzusinken in die unbekannte Welt. Ruhig atmend trieb er auf einer See aus Schlaf dahin und schließlich auf dem Plateau eines gewaltigen Eisbergs, geboren im grönländischen Gletscher, herübergetrieben an die Ostküste von Bylot Island, festgehalten von der zufrierenden See und endlich dem aufbrechenden Eis wieder entrissen von Wind und Wellen und nach Süden getrieben. In seinem Traum stieg Anawak über einen schmalen, verschneiten Pfad bis zum Gipfel des Berges und sah, dass sich dort ein smaragdgrüner Binnensee aus Schmelzwasser gebildet hatte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich spiegelglattes, blaues Meer. Der Eisberg würde zerfließen, und er würde hinabsinken in diese stille See zum Urgrund allen Lebens, wo ein Rätsel darauf wartete, gelöst zu werden.
Und vielleicht ein Schamane, ihm dabei zu helfen.
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24. Mai
Frost
Frost war wie üblich anderer Meinung.
Die Hauptmethanvorkommen lagerten nach Einschätzung der rohstofffördernden Industrie im Pazifik entlang der Westküste Nordamerikas und vor Japan, außerdem im Ochotskischen Meer sowie im Beringmeer und weiter nördlich in der Beaufortsee. Im Atlantik hatten die USA das meiste davon vor der Haustür. Es gab größere Vorkommen in der Karibik und vor Venezuela und starke Konzentrationen im Gebiet der Drake-Straße zwischen Südamerika und der Antarktis. Auch von den norwegischen Hydraten hatte man gewusst, und ebenso bekannt war die Existenz von Lagerstätten im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer.
Nur vor der Nordwestküste Afrikas waren sie offenbar dünn gesät. Ganz besonders im Umfeld der Kanarischen Inseln.
Und das wollte Frost nicht einleuchten.
Denn dort stieg kaltes Wasser aus der Tiefe hoch, beladen mit Nährstoffen für Planktonalgen, die ihrerseits wiederum die Grundlagen für die exzellenten kanarischen Fischgründe schufen. Daran gemessen hätten im Gebiet der Kanaren sogar sehr große Hydratmengen lagern müssen – überall, wo organisches Leben in großer Vielfalt vorkam, bildete sich früher oder später Methan in der Tiefsee.
Das Problem mit den Kanaren war, dass sich die verwesenden Reste der Lebewesen nirgendwo absetzen konnten. Nachdem die Inseln Jahrmillionen zuvor aus Vulkanen entstanden waren, ragten sie steil wie Türme vom Meeresboden in die Höhe: Teneriffa, Gran Canaria, La Palma, Gomera und Ferro. Sie alle wuchsen aus Tiefen zwischen drei und dreieinhalb Kilometern zur Oberfläche, vulkanische Felsnadeln, an denen Sedimente und organische Rückstände einfach vorbeitrudelten, anstatt sich festzusetzen. Die gängigen Karten verzeichneten darum im Gebiet der Kanaren gar keine Methanvorkommen. Was nach Ansicht von Stanley Frost die erste Fehlannahme war.
Zweitens ahnte er, dass die Vulkankegel, als deren Spitzen die Inseln aus der See ragten, längst nicht so steil waren, wie es allgemein hieß. Natürlich waren sie steil, aber nicht glatt und senkrecht wieHäuserwände. Frost hatte sich hinreichend mit der Entstehung und dem Wachstum von Vulkanen beschäftigt, um zu wissen, dass selbst der steilste Kegel Grate und Terrassen aufwies. Er war der festen Überzeugung, dass rund um die Inseln eine ganze Menge Methan lagerte und dass bis jetzt lediglich keiner so genau nachgesehen hatte. Dieses Hydrat würde nicht in großen Brocken vorkommen, aber das Gestein als Netz feiner Äderchen durchziehen. Auf den sedimentbedeckten Graten hatte es sich auf alle Fälle angelagert.
Da er zwar Vulkanologe, aber kein Experte für Hydrate war, hatte er im Chateau Gerhard Bohrmann zu Rate gezogen. Sie waren übereingekommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Frost hatte daraufhin eine Liste von Inseln erstellt, die ihm gefährdet erschienen. Dazu gehörten außer La Palma auch Hawaii, die Kapverden, Tristan de Cunha weiter südlich und Réunion im Indischen Ozean. Jede davon war eine potenzielle Zeitbombe, aber La Palma war und blieb ohne Beispiel. Wenn zutraf, was Frost befürchtete, und diese Wesen in der Tiefsee tatsächlich so schlau waren, wie der norwegische Professor meinte, hing die Cumbre-Vieja-Vulkankette auf La Palma über Millionen Menschen wie ein zweitausend Meter hohes Damoklesschwert.
Dank
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