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Der Schwarm

Der Schwarm

Titel: Der Schwarm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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es hielt sein Versprechen nicht und erwies sich als zu klein. Akesuk wurde ärgerlich und schimpfte auf den Mann, der ihnen das Zelt vermietet hatte. Davon wurde es nicht größer, also stellten sie ihre Essteller auf Schlittenrahmen und Vorratskisten und aßen, bis sie beinahe platzten.
    Gegen halb zwei, als einer nach dem anderen müde wurde, förderteAkesuk eine Flasche Champagner aus den Tiefen seines Gepäcks. Er zwinkerte Anawak listig zu. Mary-Ann krauste die Nase und ging schlafen. Schließlich waren nur noch Anawak und sein Onkel wach und der Mann, der Gewehr bei Fuß auf einer hochgedrückten Packeisscholle stand und für die Bärenwache eingeteilt war.
    »Dann trinken wir sie eben«, sagte Akesuk.
    Anawak schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.«
    »Ach richtig!« Akesuk warf einen Blick des Bedauerns auf die Flasche. »Bist du sicher? Ich hatte sie extra eingesteckt, um sie bei einer besonderen Gelegenheit zu öffnen. Die besondere Gelegenheit... na ja, du bist heimgekommen, und ich dachte ...«
    »Ich will die Kontrolle nicht verlieren, Iji.«
    »Über was? Über dein Leben oder diesen Augenblick?« Er zuckte die Achseln und steckte die Flasche wieder weg. »Na schön. Es gibt andere besondere Gelegenheiten. Vielleicht machen wir reiche Ernte. Möglich, dass wir einen Weißwal erlegen oder ein dickes, saftiges Walross. Was ist, laufen wir noch ein Stück, bevor wir uns aufs Ohr hauen?«
    »Gerne, Iji.«
    Sie schlenderten bis zur Meereiskante. Anawak ließ seinem Onkel den Vortritt. Der alte Mann wusste besser, wo das Eis stabil war und wo man Gefahr lief einzubrechen. Die Inuit kannten hunderte von Wörtern für jede Art von Eis und Schnee, nur keines, das einfach Schnee oder Eis bedeutete. Derzeit bewegten sie sich auf elastischem Eis. Während Eisberge aus Süßwasser bestanden, weil das Salz komplett ausfror, fanden sich in Treibeis und Meereis Reste davon. Je schneller das Eis fror, desto höher war sein Salzgehalt. Das Eis wurde dadurch elastischer, was im Winter von Vorteil war, da es weniger schnell brach, und im beginnenden Frühling nachteilhaft, weil die Abbruchgefahr nun immer größer wurde. Ein Sturz ins kalte Wasser konnte einen Menschen töten, aber noch gefährlicher war es, wenn einen die Strömung unter die Eisdecke trieb.
    Sie fanden einen Platz nahe der Kante und lehnten sich gegen einen Packeisblock. Vor ihnen erstreckte sich die silbrige See. Dicht unter Wasser sah Anawak Äschen mit stahlblauen Rücken dahinflitzen. Eine Weile schaute er einfach nur hinaus. Auch Akesuk hüllte sich in Schweigen. Sie ließen Zeit verstreichen, und plötzlich – als habe die Natur beschlossen, sie für ihr Ausharren zu belohnen – ragten zwei schraubig gedrehte Einhörner aus dem Wasser wie gekreuzte Degen. Zwei Narwalmännchen zeigten sich wenige Meter von der Kanteentfernt. Runde, dunkelgrau gefleckte Köpfe kamen zum Vorschein, dann tauchten die Tiere langsam wieder ab. In spätestens einer Viertelstunde würden sie hier wieder auftauchen. Das war ihr Rhythmus.
    Anawak war fasziniert. Narwale bekam man vor Vancouver Island so gut wie gar nicht zu Gesicht. Lange Zeit hatten sie kurz vor der Ausrottung gestanden. Ihre Hörner, eigentlich verlängerte Stoßzähne, bestanden aus purem Elfenbein, dessentwegen sie jahrhundertelang abgeschlachtet worden waren. Immer noch standen sie auf der Liste der gefährdeten Arten, aber mittlerweile hatte sich ihr Bestand zwischen Nunavut und Grönland wieder auf 10000 erhöht.
    Das Eis knarrte und ächzte leise, wenn es vom Wasser bewegt wurde. Ein Stück entfernt kreischten Vögel über den Kadaverresten des erlegten Wals. Mildes Licht lag auf den Felsen und Gletschern von Bylot Island und zeichnete Schatten über das gefrorene Meer. Dicht über dem Horizont hing eine blasse, eisige Sonne.
    »Du hast mich gefragt, ob ich das alles vermisst habe«, sagte Anawak.
    Akesuk schwieg.
    »Ich habe es gehasst, Iji. Ich habe es gehasst und verachtet. Du wolltest eine Antwort. Da hast du sie.«
    Sein Onkel seufzte.
    »Du hast deinen Vater verachtet«, sagte er.
    »Mag sein. Aber erklär einem zwölfjährigen Jungen den Unterschied zwischen seinem Vater und seinem Volk, wenn beide sich in ihrem Elend überbieten. Mein Vater war kraftlos und ständig betrunken. Er hat gejammert und rumgeheult und meine Mutter so tief zu sich heruntergezogen, bis sie keinen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Nenn mir eine Familie, die damals keinen Selbstmord zu beklagen hatte. Alle

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