Der Schwarm
Computer- und Fernsehbildschirmen die wirkliche Welt? Ergibt die Aufsummierung aller Eindrücke Vielfalt, solange wir uns über Prototypen verständigen müssen wie »die Katze« und »die Farbe Gelb«? Es ist zweifellos etwas Wunderbares, wie das menschliche Hirn dem Variantenreichtum solche Mittelwerte abtrotzt, ein prächtiger Trick, um dieVerständigung über das Unmögliche möglich zu machen, aber der Preis ist die Abstraktion. Am Ende steht eine idealisierte Welt, in der Millionen Frauen versuchen, wie zehn Supermodels auszusehen, Familien eins Komma zwei Kinder haben und ein Chinese im Schnitt 63 Jahre alt und 1 Meter 70 groß wird. Vor lauter Versessenheit auf Normen übersehen wir, dass die Normalität im Abnormalen liegt, in der Abweichung. Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte der Missverständnisse. Sie hat uns geholfen, Überblick zu gewinnen, aber sie leugnet die Variation. Sie hat uns der Welt entfremdet.
Und einander dafür näher gebracht.
Meinst du wirklich?
Haben wir nicht versucht, mit den Yrr einen Weg der Verständigung zu finden? Ist es nicht sogar gelungen? Wir haben die Mathematik als Basis entdeckt.
Vorsicht! Das ist etwas völlig anderes. Es gibt keinen Variantenspielraum in der Berechnung des pythagoreischen Quadrats. Die Lichtgeschwindigkeit bleibt immer die Lichtgeschwindigkeit. Mathematische Formeln sind unverrückbar, solange sie denselben physikalischen Raum beschreiben. Mathematik lässt keinerlei Wertung zu. Die mathematische Formel ist nichts, das in einer Höhle oder auf einem Baum lebt, das man streicheln kann oder das die Zähne fletscht, wenn man ihm zu nahe kommt. Es gibt kein durchschnittliches Gravitationsgesetz unter vielen ähnlichen, sondern nur das eine. Sicher, über die Mathematik haben wir einen Austausch zuwege gebracht, aber verstehen wir einander deswegen? Hat die Mathematik die Menschen einander näher gebracht? Die Etikettierung der Welt folgt den Besonderheiten der jeweiligen Kulturgeschichte, und jeder Kulturkreis sieht die Welt ganz anders. Die Inuit kennen kein einziges Wort für Schnee, aber Hunderte für Schneearten. Das Volk der Dani auf Neuguinea kennt keine Bezeichnungen für Farben.
Was siehst du?
Weaver starrt in die Dunkelheit. Das Tauchboot zieht ruhig seine Bahn, immer noch um 60 Grad geneigt, 12 Knoten schnell. Eintausendfünfhundert Meter hat sie schon zurückgelegt. Nicht mal ein Ächzen oder Knacken ist von der Verschalung des Deepflight zu hören. In der Nachbarröhre liegt Mick Rubin. Sie versucht, möglichst wenig an ihn zu denken. Es ist merkwürdig, mit einem Toten durch die Nacht zu fliegen.
Ein toter Botschafter, auf dem alle Hoffnungen ruhen.
Plötzlich ein Aufblitzen.
Die Yrr?
Nein, etwas anderes. Tintenfische. In einen ganzen Schwarm ist sie geraten. Plötzlich schwebt sie mitten durch ein unterseeisches Las Vegas. In der immer währenden Nacht der Tiefsee können weder bunte Kleider noch Tänze mögliche Partnerinnen beeindrucken. Wenn die Junggesellen auf der Suche nach einer Begleiterin sind, protzen sie durch Beleuchtung. Ganze Organreihen blinken mit lumineszierenden Bakterien in Photophoren, kleinen durchsichtigen Taschen, die sich verschließen und wieder öffnen lassen, ein Blinkgewitter, codiertes Tiefseegeschrei. In diesem Fall scheint es weniger darum zu gehen, Weavers Tauchboot den Hof zu machen. Die Blitze dienen der Abschreckung. Verschwinde, sagen sie, und als Weaver nicht verschwindet, öffnen die Tiere ihre Photophoren ganz und umschwärmen sie, angetan mit einem gleichmäßig schimmernden Kleid aus Licht. Dazwischen kleinere Organismen, hell mit rotem oder blauem Kern: Medusen.
Dann gesellt sich etwas hinzu, das Weaver nicht sehen kann, aber ihr Sonar erfasst es. Eine große, kompakte Masse. Einen Moment lang denkt sie an ein Kollektiv der Yrr, aber die Kollektive leuchten, und dieses Ding hier ist so schwarz wie das umgebende Meer. Es hat eine längliche Form, wuchtig zur einen und schlank zulaufend zur anderen Seite. Weaver fliegt geradewegs darauf zu. Sie zieht das Deepflight ein Stück hoch und gleitet über das Wesen hinweg, und im selben Moment wird ihr klar, was sie da möglicherweise überflogen hat.
Wale müssen trinken. Eine absurde Vorstellung angesichts eines Lebens unter Wasser, aber die Gefahr, im Ozean zu verdursten, ist für einen Wal ebenso groß wie für einen Schiffbrüchigen. Quallen bestehen fast vollständig aus Wasser, Süßwasser nämlich, ebenso wie Tintenfische, die
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