Der schwarze Wikinger: Roman (German Edition)
1.
C aitlín sah nicht die Hand vor Augen. Undurchdringliche Schwärze umschloss sie. Umso klarer nahm sie jedes Geräusch wahr: das unterdrückte Atmen der sechs, sieben Frauen, die mit ihr in dem dunklen Kellerloch ausharrten. Gehauchte Gebete. Das Rascheln eines Habits, wenn eine der Nonnen es wagte, ihr Gewicht zu verlagern. Die Füße einer Maus, die über den kalten Steinboden rannte.
Irgendwo weiter oben krachten Türen, zerschellten Gegenstände, stampften Schritte der Plünderer über den Boden.
Wikinger – Seekrieger! Der schrille Ruf der Nonnen, der Caitlín in der Morgendämmerung im Gästehaus geweckt hatte, hallte noch immer in ihren Ohren. Nie hatte sie damit gerechnet, während der Reise zum Landgut ihres Verlobten überfallen zu werden. Sie war sofort hellwach gewesen, war mit nichts als ihrem Untergewand bekleidet ins Haupthaus und in die kleine Klosterküche gestürzt. Wo, wenn nicht hier, gab es etwas, womit man sich verteidigen konnte? Sie hatte sich ein Gemüsemesser geschnappt. Eher wollte sie sterben als sich von barbarischen Nordmännern rauben und schänden zulassen. Dann hatte eine der Benediktinerinnen hektisch die Bodenklappe im Vorratsraum geöffnet und die kleine Schar die Stiege hinabgescheucht.
Bitte, lieber Gott, lass mich das Messer nicht gebrauchen müssen . Caitlíns Hand schmerzte, weil sie es so fest umklammerte. Mach, dass sie verschwinden .
Sie erinnerte sich an alte Geschichten, mit denen man sie als Kind erschreckt hatte, wenn sie aufmüpfig gewesen war. In ihnen flogen die Drachenschiffe der Seekrieger wie das Ungeheuer Leviathan über das Meer, weder Wind noch Kälte konnten sie aufhalten. Muskelbepackte Riesen, die Silberperlen in den Bärten und heidnische Amulette an den Hälsen trugen, schlugen mit ihren Streitäxten alles kurz und klein – Hütten, Häuser, Menschen. Und was sie nicht zerstörten, nahmen sie mit: Frauen und Silber.
So war es früher gewesen, anderswo. Doch diesen irischen Küstenabschnitt hatten Nordmänner bisher nur aufgesucht, um zu siedeln. Nie in ihrem achtzehnjährigen Leben hatte Caitlín gehört, dass eine Wikingfahrt hierher stattgefunden hatte. Die Dörfer der irischen Nordostküste waren in Sorglosigkeit verfallen. Die Klöster ohnehin, denn die wehrlosen Gottesdiener schützte ein Versprechen des norwegischen Königs Olaf Tryggvasson, der den neuen Glauben angenommen hatte. Man hatte geglaubt, die nordischen Heiden hielten sich daran.
Heute war der Tag, an dem sich dies als grausamer Irrtum herausstellte.
Schritte näherten sich. Neben Caitlín schnappte die junge Schwester Órla nach Luft; ihr gehaspeltes lateinisches Flehen wurde lauter.
»Still!«
Caitlín tastete nach ihr und drückte sie an sich. Ihre offen fallenden Locken dämpften die Worte der Nonne. Eine andere klapperte mit den Zähnen, schaffte es aber, die Kiefer zusammenzupressen. Da flog die Tür zum Vorratsraum auf, so heftig, dass sie gegen die Wand knallte. Caitlín zuckte zusammen. Der Boden aus nicht allzu dicken Leisten über ihr bebte, als zwei Männer darüberschritten. Immerhin hatte sie beim Hinabsteigen gesehen, dass die aus grob aneinandergereihten Latten gefertigte Falltür unauffällig war. Fackelschein leuchtete durch die Ritzen, als einer der Seekrieger dicht an der Falltür vorbeistapfte. Das Licht ließ seine hellblonden Haare aufleuchten, die ihm wild bis auf die Schultern fielen. Nicht minder wild war sein Bart, in denen Blutspritzer klebten. Er war gewaltig.
Dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden, und sie hörte ihn vor eines der Vorratsregale treten. Ein Korb flog auf die Falltür, und Äpfel rollten auf den Boden. Caitlín erzitterte. Wenn er einen der Weinkrüge umstößt und der Wein durch die Ritzen fließt, wird er uns entdecken .
Aber der blonde Hüne zog es vor, den Wein zu trinken. Den Geräuschen nach prüfte er, was das Regal noch an Vorräten hergab. Natürlich, mit Frauen und Silber allein ließ sich der Hunger während einer Raubfahrt nicht stillen.
»Kom, brodir!« Er winkte hinter sich.
Der zweite Mann schritt über den federnden Boden und bekam die Fackel in die Hand gedrückt, die er zögerlich in die Höhe hielt. Caitlín glaubte zu erkennen, wie sich die beiden Männer anstarrten. Der andere war ebenso hoch gewachsen, aber schlanker. Zu ihrer Überraschung waren seine Haare, die er im Nacken mit einem Band zusammengefasst trug, schwarz wie die Nacht. Der dicke Strang fiel ihm zwischen die Schulterblätter. Einen
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