Der schwarze Wikinger: Roman (German Edition)
noch!«, rief sie aus, und ihre Zähne begannen sofort wieder aufeinanderzuschlagen.
Durch das Fenster wehte Schnee herein. Caitlín hastete an die Öffnung und stellte sich auf die Zehenspitzen. Dicke Flocken wirbelten durch die Nacht, hoffentlich der letzte Schnee der ausgehenden kalten Jahreszeit. Wenn doch ein später Wintersturm das Drachenschiff mitsamt den Räubern versenkte! Doch sie konnte sich nur allzu lebhaft vorstellen, wie die Nordmänner an ihren Rudern saßen, grölten, lachten und sich weder um Gischt noch um den Schnee scherten, der in den Spitzen ihrer Bärte zu Eiszapfen gefror.
Ein anderes Bild schob sich vor ihr inneres Auge: das eines großen Mannes, der gefesselt auf dem kalten Boden lag. Der fallende Schnee begann ihn unter sich zu begraben …
»Ich habe heißen Sud für Euch, Herrin!« Schwester Órla stapfte in die Kammer, ein hölzernes Tablett vor der wogenden Brust. Aus dem dampfenden Krug duftete es nach Fenchel und Salbei. »Ein Schuss Wein ist auch darin«, fügte sie mit verschwörerisch gesenkter Stimme hinzu. »Ich glaube nicht, dass heute der Tag ist, sich über Essensregeln allzu große Gedanken zu machen. Trinkt, er wird Euch guttun.«
Sie stellte das Tablett auf einem Hocker ab und füllte zwei Becher. In unziemlicher Hast stürzte Hyld ihren Anteil hinunter, noch bevor Caitlín den Becher an den Mund gehoben hatte. In der Tat: Die Ereignisse hatten ordentliche Sitten bedeutungslos gemacht. Morgen würde sie womöglich Seite an Seite mit den Nonnen die Gräber ausheben.
Ihr schauderte es.
»Trinkt schon, dann friert Ihr nicht mehr.« Órla, bereit zum Nachschenken, hielt ihr den Krug vor die Nase. »Warum schaut Ihr mich so an, Herrin?«
Caitlín nippte. »Weil mir soeben ein Gedanke gekommen ist, den du ungeheuerlich finden wirst. Genau wie du, Hyld, und trotzdem wirst du nicht jammern und mir gehorchen, das erwarte ich von dir.«
»Großer Gott, Herrin.« Hyld wappnete sich mit einem kräftigen Schluck des Suds. »Aber das tu ich doch immer.«
»Herrin Caitlín?«, krächzte Órla.
Caitlín blickte einer nach der anderen fest in die misstrauisch aufgerissenen Augen. »Wir müssen dem Wikinger helfen«, erklärte sie.
Die beiden schlugen fast gleichzeitig ein Kreuz. »Aber es … es ist Gottes Wille, dass er erfriert«, stotterte Schwester Órla.
»Wäre er einer von den Angreifern, die uns aufstöbern wollten, so würde ich dir beipflichten. Aber ihm haben wir zu verdanken, dass wir uns noch hier befinden und nicht draußen auf der See auf einem grässlichen Drachenschiff. Er hat uns im Vorratskeller entdeckt, aber nicht verraten.«
»Aber warum hätte er so handeln sollen?«, rief Órla. »Ihr müsst Euch irren, ganz bestimmt.«
»Ich irre mich nicht.«
»Und die ehrwürdige Mutter Oberin? Sie wird das niemals erlauben.«
»Sie wird vorerst nichts davon erfahren. Und wenn dann ein wacher, lebender Mensch vor ihr steht, wird sie es sich noch einmal überlegen, ob sie ihn der Kälte überlassen will.«
»Aber sie hat doch recht, wenn sie sagt, dass Gott ihn retten wird, falls es sein Wille ist.«
Caitlín ballte die Fäuste. Ihr lag auf der Zunge, dass es den Benediktinerinnen anscheinend sehr gelegen kam, Entscheidungen auf den Herrgott abzuwälzen. Beinahe wünschte sie sich, nicht diesen alles entscheidenden Blick mit dem Fremden gewechselt zu haben. Den Blick, der sie nun zwang, ihrem Gewissen zu folgen. »Also gut.« Entschlossen reckte sie ihr Kinn. »Holen wir ihn herein. Gelingt es uns und er überlebt, so hat Gott ihn gerettet. Andernfalls würde er dies zu verhindern wissen, nicht wahr?«
»Aber Herrin Caitlín«, wandte Hyld zögerlich ein, »man könnte ja meinen, Ihr würdet irgendetwas für diesen schrecklichen Kerl empfinden.«
»Was für ein absurder Gedanke!« Caitlín dachte an sein zorniges Gesicht, sein Wesen, das ungebändigte, barbarische Kraft ausstrahlte. Er ist ein Wikinger, und ich verabscheue ihn dafür , dachte sie inbrünstig. Allein vor seinem Blick konnte man sich fürchten. »Und jetzt kommt, ihr zwei.«
Oh ja, sie fürchtete sich tatsächlich. Da lag er, hatte sich offenbar nicht bewegt, und doch musste sie sich überwinden, sich niederzuknien und die Hand nach ihm auszustrecken. Caitlín sehnte sich nach dem berauschenden Gefühl zurück, wie in einem Traum zu wandeln, als sie auf ihn zugegangen war und den Dolch aus seinem Rücken gezogen hatte. Diesmal zitterten ihre Finger, obwohl sie nichts weiter tat, als den Schnee
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