Der Schwur der Venezianerin
studierte sie täglich die Geschichten.
In der Bibliothek des väterlichen Palazzo fand sie die Bücher und Karten, die sie für ihr Verständnis benötigte.
Leidenschaftlich und mit wachsendem Stolz stöberte sie in den Archiven der Vorfahren. Sie erfuhr von den Kämpfern im Namen Christi, die Ägypten, Palästina und Griechenland und die Städte wie Zadar, Split und Dubrovnik ausgeraubt hatten. Die Venezianer verstanden es dabei stets, den Vorteil auf ihrer Seite zu nutzen, zumal sie nach dem Motto lebten
„Zuerst bin ich Venezianer, dann Christ.“
Mord, Totschlag, Raub, Plünderungen, Vergewaltigungen, Intrigen, kaltschnäuziges Ausnutzen jeglicher Chance mit dem höchsten Einsatz menschlicher Leiber ließ in den heimischen Palästen Venedigs die Tische unter den blutbefleckten Silber- und Goldschalen knirschen und bersten. Jesus Christus beruhigten sie in den Kirchen mit ein paar geraubten Goldschätzen der Heiden, die Heilige Maria erhielt einige schmucke Kapellen. Das religiöse Dasein war ein finanzielles Arrangement. Nicht nur der Wohlstand auf Erden auch die himmlische Glückseligkeit ließ sich mit Gold und Silber arrangieren.
Nur wer arm war und der Religion Roms Glauben schenkte, versank in Angst und Furcht und konnte sich von seinen Sünden nicht freikaufen.
Die Handelsoligarchie hatte sich schon bald als die geeignete Form in Venedig erwiesen, die Interessen aller Wirtschaftszweige in Wohlstand umzusetzen. Es waren nur ein paar Familien, die den Wohlstand unter sich aufteilten. Dem armen Volk überließ man die Religion, den treuen Glauben an das Paradies und die Wiedergutmachung für die Entrechteten im jenseitigen Leben. Die Großkaufleute ließen sich selbst in ihren wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen von einer korrupten und sittenlosen Kirche nicht reinreden. So gestaltete sich denn auch der von Venedig gestützte vierte Kreuzzug wie ein einzigartiger, willkommener Handelskrieg.
Aus gerade jener Zeit hatte Enrico Cappello die Geschehnisse in einem Tagebuch festgehalten. Er unterrichtete seine Ur-Urenkelin beim Lesen alter Dokumente über die Gewinne bei den Kreuzzügen. Und es kam ihr vor, als spräche er persönlich zu ihr.
„Es waren 20 000 Fußsoldaten zu verpflegen, 4500 Ritter und 9000 Knappen. Sie wollten von uns mit dem Schiff nach Alexandrien gebracht werden. Zusätzlich stellten wir ihnen eine Galeerenflotte von fünfzig Schiffen zusammen. Die 85.000 Silberlinge, die an uns zu zahlen waren, mussten natürlich im Vorhinein beglichen werden.
Also zahlten die christlichen Ritter mit ihrem Gefolge reichlich für die Überfahrt. Beim Angriff auf die Küstenstadt Zadar leisteten unsere Seestreitkräfte, gegen beste Entlohnung, wirksame Hilfe. Der Doge selbst hatte diesen Umweg über die reiche Stadt verlangt, wenn schon einmal eine solche große Armee aufgestellt war, so konnte er sie gut nutzen, um eine persönliche Rechnung zu begleichen. Das war eine Rechnung, die in Zadar noch offen stand. An der Küste Dalmatiens war eine Menge Gold zu holen.
Von da war der räuberische Zug weiter in die christliche Stadt Konstantinopel gepilgert und hatte sie ihrer Werte entkleidet. Die Christenritter hatten schwer zu tragen an den gestohlenen Waren der christlichen Bürger der Stadt am Bosporus.“
Ein wenig traurig schilderte der Vorfahre, dass die Kämpfer dieses vierten Kreuzzuges nicht weiter als bis nach Konstantinopel gekommen waren, und ihnen dadurch viele Reichtümer der Heiden vorenthalten blieben. Doch unabhängig davon entwickelte sich die Handelsmetropole Venedig zum goldenen Herrscher im Mittelmeer.
„In den Gebieten der Heiden residieren nun unsere eigenen Handelszentralen“, so schrieb Enrico frei heraus. „Wir fanden nicht schnell genug fähige Leute, die vertrauenswürdig in jedem Winkel der Welt unsere Geschäfte abzuwickeln hatten, so schnell wuchs unser Handel.“
Mit leuchtend roten Wangen vertiefte sich Bianca in die Geschichte der Familie. Sie verschaffte sich die Bücher aus der Bibliothek des eigenen Palazzo, schloss sich beim Studium in ihrer Kammer ein und lauschte den Berichten der Vorfahren. Sie bewunderte die längst vergangenen Generationen, die mit Geschick und Abenteuerlust über Jahrhunderte hinweg das Vermögen ihrer Familie angehäuft und vermehrt hatten. Schließlich war es ihr gleichgültig, woher das Vermögen kam und wie es zustande kam.
Bianca war versessen auf die Geschichten der Vorfahren. Sie nahm sich Bücher und Landkarten mit
Weitere Kostenlose Bücher