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Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen

Titel: Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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abzutrocknen, zog ich mein Taschentuch, hielt eine Sekunde lang inne und – wurde von Gibson erschossen!
    Das Krachen des Schusses weckte mich, denn es war nicht ein vermeintliches, sondern ein wirkliches Krachen gewesen. Ich hatte mich vor Aufregung im Bette hin und her geworfen und in der Absicht, Gibson den Revolver aus der Hand zu schmettern, die Lampe von dem Kammerdiener, einem kleinen, hart am Bette stehenden Tischchen, geschlagen. Sie wurde mir am Morgen mit nur acht Dollars angerechnet. Das kommt davon, wenn man einen Spitzbuben fangen will und kein Geschick dazu hat!
    Vollständig in Schweiß gebadet, erwachte ich. Ich trank meinen Thee und fuhr dann hinaus nach dem herrlichen See Pontchartrain, wo ich ein Bad nahm, welches mich erfrischte und auch meine moralische Constitution zu stärken schien. Dann begab ich mich von Neuem auf die Suche. Dabei kam ich wieder an die deutsche Bierstube, in welcher ich gestern Old Death getroffen hatte. Ich ging hinein, und zwar ohne alle Ahnung, hier eine Spur finden zu können. Das Local war in diesem Augenblicke nicht so gefüllt, wie am vergangenen Tage. Gestern war keine Zeitung zu bekommen gewesen; heut lagen mehrere Blätter unbenutzt auf dem Tische und ich ergriff das erste, beste, eine deutsche Zeitung, die bereits damals in New-Orleans erscheinende »Deutsche Zeitung«, welche noch heute existirt, wenn sie auch wahrscheinlich inzwischen nach amerikanischem Muster den Verleger und Redacteur viele Male gewechselt hat.
    Ohne die Absicht, das Blatt wirklich durchzustudiren, schlug ich es auf, und das erste, was mir auffiel, war ein Gedicht. Gedichte lese ich bei der Durchsicht einer Zeitung entweder zuletzt oder lieber gar nicht. Die Ueberschrift glich der Kapitelüberschrift eines Schauerromans. Das stieß mich ab. Sie lautete: »Die fürchterlichste Nacht.« Schon wollte ich die Seite umwenden, als mein Auge auf die beiden Buchstaben fiel, mit denen das Gedicht unterzeichnet war: »W.O.« Das waren ja die Anfangsbuchstaben des Namens William Ohlert! Der Name hatte mir so lange Zeit und so unausgesetzt im Sinne gelegen, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn ich ihn in Beziehung zu diesen Buchstaben brachte. Ohlert junior hielt sich ja für einen Dichter. Sollte er seinen Aufenthalt in New-Orleans dazu benutzt haben, eine Reimerei an das Publikum zu bringen? Vielleicht war die Veröffentlichung so schnell erfolgt, weil er die Aufnahme bezahlt hatte. Bewahrheitete sich meine Vermuthung, so konnte ich durch dieses Gedicht auf die Spur der Gesuchten gebracht werden. Ich las also:
     
    Die fürchterlichste Nacht
     
    Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
    Bei hohlem Wind und schwerem Regenfall,
    Die Nacht, in der kein Stern vom Himmel blinkt,
    Kein Aug’ durchdringt des Wetters dichten Wall?
    So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen;
    O lege dich zur Ruhe, und schlafe ohne Sorgen!
     
    Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt,
    Wenn dich der Tod auf’s letzte Lager streckt
    Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt,
    Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
    So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen;
    O lege dich zur Ruhe, und schlafe ohne Sorgen!
     
    Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
    Daß er vergebens nach Erlösung schreit,
    Die schlangengleich sich um die Seele schlingt
    Und tausend Teufel in’s Gehirn dir speit?
    O halte fern dich ihr in wachen Sorgen,
    Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!
     
    W.O.
     
    Ich gestehe, daß die Lectüre des Gedichtes mich tief ergriffen. Mochte man das Gedicht für literarisch werthlos erklären, es enthielt doch den Entsetzensschrei eines begabten Menschen, welcher vergebens gegen die finstern Gewalten des Wahnsinnes ankämpft und fühlt, daß er ihnen rettungslos verfallen müsse. Doch schnell überwand ich meine Rührung, denn ich mußte handeln. Ich hatte die Ueberzeugung, daß William Ohlert der Verfasser dieses Gedichtes sei, suchte im Directory nach der Adresse des Herausgebers der Zeitung und begab mich hin.
    Expedition und Redaction befanden sich in demselben Hause. In der Ersteren kaufte ich mir ein Exemplar und ließ mich sodann bei der Redaction melden, wo ich erfuhr, daß ich sehr richtig vermuthet hatte. Ein gewisser William Ohlert hatte das Gedicht am Tage vorher persönlich gebracht und um schleunige Aufnahme gebeten. Da das Verhalten des Redacteurs ein ablehnendes gewesen war, so hatte der Dichter zehn Dollars deponirt und die Bedingung gestellt, daß es in der

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