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Der Seelenschluessel

Der Seelenschluessel

Titel: Der Seelenschluessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivia Woods
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Anführer zusammenzurufen.
    Raiq wusste, dass es kein Ruf zu den Waffen war, sondern einer der Verzweiflung. Wie viele andere Ritter hatte auch sie von den Zeichen berichtet, die die Rückkehr der Unnennbaren verkündeten, und von der neuen Ketzerrasse, die behauptete, mit ihnen verwandt zu sein. Raiq glaubte, sie sei kürzlich einer Schamanin dieser fehlgeleiteten Gläubigen begegnet. Sie verdankte dieser Priesterin ihr Leben. Deswegen hatte sie ihre schnelle und gnadenlose Hand gezügelt und Opaka Sulan nur gewarnt, einen erneuten Kontakt unter allen Umständen zu vermeiden.
    Es hatte weitere Zeichen gegeben, nicht minder vielsagend. So hatten während Raiqs Treffen mit Opaka beispielsweise die Sterne ihre Positionen gewechselt und Gerüchte über die Rückkehr der Eav’oq waren aufgekommen. Doch trotz dieser gewaltigen Omen hatten die Aszendenten noch immer nicht die Festung des Wahren erreicht. Statt ihrer hatten sie Zweifel und Ungewissheit gefunden. Sie wussten nicht länger, welchen Weg sie einschlagen sollten, und sie fühlten sich abgelenkt durch den Konflikt mit einem der neueren Imperien dieser Region, dem sogenannten Dominion, und den formwandelnden, falschen Göttern, die es regierten.
    Damit sich dies änderte, waren die Suchenden der Aszendenten zusammengekommen, um die widersprüchlichen Interpretationen der Zeichen zu diskutieren. Raiq war froh darüber. In einer derart kritischen Situation würde eine Spaltung ihren Untergang bedeuten. Einheit war der einzig akzeptable Kurs – selbst wenn er einen neuen Bürgerkrieg nötig machte. Was schadete es schon, wenn eine Seite die andere vernichtete?
Nach
dem Krieg würden die Überlebenden das Wahre erkennen, und nur das zählte. Denn so wie jeder Ritter verpflichtet war, die zu vernichten, die dem falschen Glauben anhingen, mussten die Aszendenten ihre Ränge von Irrlehren reinigen.
    Nachdem der letzte Suchende den Krater erreicht hatte, trat ein Ritter aus dem innersten Kreis hervor und löschte das Feuer mit einem Wink seiner langen, silbrigen Hand. Als das Licht verging, kam in der Kreismitte ein dunkler, von den Flammen unberührter Tetraeder zum Vorschein. Raiq hielt den Atem an. Das Schauspiel, das sich nun abspielte, kannte sie nur aus den Schriften.
    Die Stimme des Ritters hallte durch den Krater. Er rief die Unnennbaren auf, sich zu zeigen und diese Versammlung ihrer treuen Soldaten zu segnen.
    Nach seinem Gebet faltete er die Hände und breitete sie sofort wieder aus. Daraufhin öffnete sich der Tetraeder. Im schwachen Sternenlicht konnte Raiq ein Objekt darin ausmachen: einen eigenartigen, kristallin wirkenden Zylinder, schmal in der Mitte und sich nach oben und unten verbreiternd. Es war das Letzte der verehrten Augen aus Feuer.
    Einst hatte es neun gegeben. Es hieß, in grauer Vorzeit hätte das Feuer des Wahren in diesen Augen gebrannt. Die Unnennbaren hätten durch diese Augen ihre Anhänger beobachtet, manchmal sogar in Träumen zu ihnen gesprochen. Doch das war vor dem Kreuzzug gegen die Eav’oq gewesen, bevor sich Ritter gegen Ritter wandte, bevor die Heimatwelt der Aszendenten verwüstet und die Überlebenden gereinigt worden waren. Acht Augen waren während des Weltenbrands verloren gegangen. Dieses war das letzte, und es hatte seitdem nie wieder geleuchtet.
    Als das Ritual vollzogen war, wandte sich der Ritter an die Versammlung. Und plötzlich stand Raiq der Mund offen – ihr und allen anderen Aszendenten im Krater.
    Im Inneren des Auges brannte auf einmal ein Licht.
    Der leitende Ritter bemerkte die schockierten Mienen seiner Mitsuchenden, wirbelte herum und sah, wie das Licht heller und heller wurde. Instinktiv hob Raiq die Hände vor die Augen, doch es war zu spät: Das Licht blendete sie, und seine Hitze wärmte für einen kurzen Moment ihre Rüstung. Dann kehrte ihre Sicht zurück, ganz langsam.
    Der Ritter stand noch immer vor dem Auge. Er schloss den Tetraeder per Hand.
    Und Raiq erkannte ihren Fehler.
    Der Ritter war dem Licht am nächsten gewesen. Er kauerte inzwischen auf den Knien, den Kopf in den Händen vergraben. Die Gestalt vor dem Behältnis des Auges
war
gar kein Aszendent! Sie war kleiner, trug keine Rüstung. Wölbungen zierten ihre eintönig graue Haut und ihr von langem schwarzem Haar umrahmtes Gesicht.
    Die Suchenden standen schockstarr und stumm da, bis einer – Raiq erkannte ihn nicht – endlich die Frage stellte, die wohl allen versammelten Rittern auf der Zunge brannte: »Wer … sind … Sie?«
    Die

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