Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Abreise zu warten. Es war die dreieckige Kammer. Man erklärte ihm, dass er von diesem Raum aus in eine Seitenstraße geführt werde, die heutige Rue Bois de Boulogne. Schon bald würde ein Führer kommen und ihn in die Freiheit geleiten. Raphaël konnte es nicht wissen, aber der sogenannte Ausgang war die Türattrappe.
„Weißt du, es ist sehr wichtig, dass du deine Nerven behältst“, sagte Petiot dem jungen Mann und erklärte die vor ihm liegenden Schwierigkeiten. Raphaël erinnerte sich, dass der Doktor ihm erzählt hatte, es sei gut möglich, dass er drei Tage ohne Schlaf auskommen müsse.
Um Raphaël bei der Bewältigung der physischen und psychischen Belastungen zu helfen, bot der Arzt ihm eine Spritze an.
Die Injektion wurde nicht mit einer ferngesteuerten Nadel verabreicht, wie Nézondet Maurice Petiot berichtete. Es war höchstwahrscheinlich eine ganz normale Spritze, da dazu keine näheren Angaben gemacht wurden. Nach der Applikation eskortierte Dr. Petiot Raphaël in den kleinen Raum und kehrte in sein „Büro“ zurück. Raphaël war nun allein in der bedrückend engen Kammer. Petiot hatte ihn nicht mit Gewalt dort eingesperrt oder gefesselt. Er konnte sich frei bewegen und starrte auf die nackten Wände: keine Fenster, nur eine Tür mit einer Klingel und eine merkwürdige Reihe von Haken. Er wartete und setzte sich auf einen der Koffer. Vollkommene Stille.
Er beschrieb dann eine plötzliche Schwäche. Der Kopf fühlte sich schwer an, sein Herzschlag schien sich zu verlangsamen und er wurde schlagartig müde. Immer noch kein Zeichen von dem Führer. Möglicherweise war er aufgehalten worden? Plötzlich hatte Raphaël den Eindruck, als packe ihn „eine unerträgliche“ Müdigkeit.
Nach einer scheinbar unendlichen Zeit – er konnte keine exakten Angaben machen –, wachte Raphaël mit unerträglichen Schmerzen auf. Er fühlte sich, als hätte man seinen Körper „auf einem Stapel Holz oder eisernen Stangen“ fixiert. Er entdeckte, dass die Handgelenke und die Füße gefesselt waren. Man hatte ein an der Decke befestigtes Seil mehrfach um seinen Körper gebunden. Raphaël hing an der Wand, gehalten von den eisernen Haken. Er konnte sich nicht bewegen, fühlte sich bleiern und matt und spürte einen drückenden Schmerz im Rücken. Ihn plagte eine zunehmende Übelkeit. Es rauschte in seinen Ohren, die Muskeln verkrampften sich und er halluzinierte. Niemals in seinem Leben hatte er so einen starken Druck auf seinem Körper gespürt, den er nur noch als einen durchdringenden Schmerz empfand. Hoffnungslosigkeit verschleierte die Sinne, doch er wusste, dass die einzige Überlebenschance darin lag, an das Überleben zu glauben.
Plötzlich fiel ihm das Atmen schwerer. Er beschrieb es, als würde sich eine „erstickende und stinkende Luft“ in der Kammer ausbreiten, und er glaubte, dass es sich um Kohlenmonoxid handelte. Allerdings war er kein Chemiker. Hinzu kommt, dass dieses Gas weder einen Geschmack noch einen Geruch hat, womit die Angabe nicht stimmen kann. Trotzdem war irgendein Gas in den Raum eingedrungen. Welches?
In den Achtzigern machte ein nicht namentlich bekannter ehemaliger Informant der französischen Gestapo gegenüber einem Historiker, der das Buch Paris Gestapo unter dem Pseudonym „Henry Sergg“ verfasst hat, eine verblüffende Enthüllung. Während eines langen Gesprächs bei einem oder zwei Gläsern Tequila berichtete der Mann, dass einige Männer von der Bande gewusst hätten, wie Dr. Petiot seine Opfer tötete. Die bis dahin bekannte Theorie, dass es Injektionen waren, sei „ein Haufen Scheiße“. Petiot habe sie vergast! Natürlich ist eine einzige anonyme Quelle, die von einem Historiker zitiert wird, der zudem ein Alias benutzt hat, wohl kaum ein idealer Beweis. (Zu dieser Zeit erhielten Geschichtswissenschaftler, die bezüglich der französischen Gestapo recherchierten, immer noch Todesdrohungen.) Der Hinweis wurde weitestgehend ignoriert. Bis auf Sergg hat kein anderer Biograf eine Tötung durch Gas erwähnt.
Doch auch im Hinblick auf Raphaëls Zeugenaussage lohnt es sich, die Behauptung näher zu beleuchten. Nach eigenen Angaben entkam Raphaël dem Arzt schließlich dank eines ungewöhnlichen Glücksfalls. Aus einem unerfindlichen Grund war die Tür zur Kammer nicht geschlossen. Ihm gelang es, sich an den Seilen um seine Handgelenke festzuhalten und „wild um sich zu treten“. Die Fesselung des linken Fußes löste sich, und er schlug mit der Ferse auf den Boden
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